Forschung, Bürger und Politik im Trialog
— Dossier der Debatte —

by Wolfgang Goede | 12. August 2013 21:23

English Abstract: New Trialogue Links Research, Citizens and Politicians in Crucial Issues

Länger leben, flexibler arbeiten – mit Absturz in die Altersarmut?
Forschung, Bürger und Politik im Trialog

Max Planck Inst. für demograf. Forschung Rostock (MPIDR)

Max Planck Inst. für demograf. Forschung Rostock (MPIDR)

Die Journalistenvereinigung TELI erprobt ein neues Veranstaltungsformat.

Die Wissenschaftsdebatte.de eröffnet einen Trialog zwischen Forschung, Politik, Bürgergesellschaft. Er richtet sich auf wichtige Zukunftsthemen:
– Demografie
– Energie
– Gesundheit
– Wissenschaftssystem
– Wissenschaft & Gesellschaft

Dieser Austausch erfolgte bisher nur virtuell über mehrere Monate hinweg.

Im Münchner PresseClub fand am 30. Juli 2013 jetzt aber die erste Live-Debatte in einem völlig neuen Format statt. Die Themen waren Demografie und Ruhestand, Renten und Arbeitswelt. Diese Art von partizipativen Veranstaltungen will die EU in ihrem Programm »Horizon 2020« künftig zum Standard machen.

»Deutschland gilt schon jetzt als das Altenheim Europas«

beobachtete unlängst die Apotheken Umschau 1. Die neuesten demografischen Zahlen zeigen 2: Die Bevölkerungspyramide dreht sich und wird kurz über lang Kopf stehen. Sechs Wochen vor den Bundestagswahlen hat sich allerdings noch kein Politiker zu der besorgniserregenden Entwicklung zu Wort gemeldet.
[Einführungsvortrag von Wolfgang C. Goede als PDF]

Maren Schüpphaus

Die Journalistenvereinigung für technisch-wissenschaftliche Publizistik TELI e.V. lud Politik und Rentenexperten, Forscher und Zivilgesellschaft zu einer Wissenschaftsdebatte darüber ein. Die Veranstaltung »Länger leben, flexibler arbeiten – mit Absturz in die Altersarmut?« im Münchner PresseClub gab dem Thema schärfere Konturen und zeigte neue Lösungswege auf. Zu diesem Ergebnis trugen auch Veranstaltungsdramaturgie und Moderationstechnik bei.

Den Platz im PresseClub teilten sich Politik, Forschung, Bürgerplattformen. Nach inhaltlichen Impulsen von Forschung und Bürgerplattformen bildete das Publikum sogenannte »Murmelgruppen«, um das Thema im kleinen Kreis zu besprechen. Daraufhin sammelte die Moderatorin Maren Schüpphaus Fragen. Diese mussten die Parteienvertreter in jeweils fünf Minuten Redezeit beantworten. Dieser Ablauf sollte einen optimalen Austausch, einen Trialog zwischen den wichtigen gesellschaftlichen Akteuren gestatten.
[Programm der Debatte als PDF]

Dr. Michaela Coppola

Dr. Michela Coppola, Max Planck Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik (MEA) stellte ein festes Rentenalter in Frage. Weil Menschen länger gesund bleiben, könnten sie auch länger arbeiten, wie etwa in Dänemark und in der Schweiz, wo sie zwei Jahre länger als in Deutschland erwerbstätig bleiben. Die gesunkene Leistungsfähigkeit kompensieren ältere Arbeitnehmer durch ihren großen Erfahrungsschatz. So erweisen sich Teams aus älteren und jüngeren Menschen als sehr erfolgreich. Jeder sollte den Eintritt in die Rente selber entscheiden dürfen, muss aber bei einem vorzeitigen Termin eine geringere Rente akzeptieren. Das zu frühe Ausscheiden aus der Arbeitswelt komme einem Braindrain gleich. Wichtige Arbeitskräfte gehen der Wirtschaft verloren.
[Impulsvortrag Michaela Coppola: Download als PowerPoint-Datei]

Otto Teufel von der Aktion Demokratische Gemeinschaft ADG gilt in Politik und Forschung als kritischer Rentenexperte. Die Wirtschaft wächst, sagte er, und die Rentenkassen sind so gut gefüllt, dass sie zur Entlastung des Bundeshaushalts herangezogen werden. Wir haben nicht so sehr ein demografisches, sondern viel mehr ein Verteilungsproblem, erklärte Teufel. Umso mehr, als Beamte bestens versorgt sind, während für Normalerwerbstätige sich die Renten seit 1977 halbiert haben. Deutschlands Altersversorgung leidet unter einem Zweiklassensystem.
[Impulsvortrag Otto Teufel als PDF]

Die Impulse aus Wissenschaft und Bürgergesellschaft lieferten den Nährstoff für die Fragen des Publikums. Diese wurden gut sichtbar auf der Leinwand festgehalten, darunter:

Die Politik nimmt Stellung

Dann schließlich, nach einstündigem gemeinschaftlichen Spannens des Themenbogens und Festklopfens der Agenda, war die Politik dran.

Die politischen Vertreter, mehrheitlich Kandidaten für den Bundestag, nahmen zu den Experten-Impulsen sowie den Publikumsfragen Stellung. Als Hilfe zur Bewertung hatten die Veranstalter Papiere erstellt mit Aussagen der Parteiprogramme über Demografie und Renten sowie mit Zitaten der Politiker.
[Aussagen der Parteiprogramme und Politiker als PDF]

SPD, Linke, Grüne und Piraten sprechen sich für eine Bürgerversicherung oder eine Grundrente als Abwehr von Altersarmut aus. In sie müssten alle Bürger, einschließlich Beamte und politische Mandatsträger einzahlen. Statt 850 Euro verlangen die Linken eine Grundsicherung in Höhe von 1050 Euro. Deren zusätzliche Forderung: Arbeitnehmer und Rentenabgaben müssen am Wirtschaftswachstum partizipieren. Am Ende könnten nur steigende Löhne die Altersversorgung absichern.

Auch die SPD beklagt die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse mit Teilzeitverträgen und Leiharbeit, die eine Familiengründung erschweren. Der in der Arbeitswelt grassierende Burnout muss durch Harmonisierung der Arbeitsverhältnisse gestoppt werden.

Dem kritisierten Renten-Missbrauch wollen die Piraten durch eine Selbstverwaltung der Rentenkassen einen Riegel vorschieben. Die jungen Leute haben sich durch Verkürzung von Schul- und Studienzeiten schon genug Stress aufgeladen, der bei vielen bereits psychologisch behandelt werden muss. Mehr kann ihnen für die Rentensicherung nicht abverlangt werden.

Für CDU/CSU bleiben die bisherigen drei Säulen aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Altersvorhersorge die Norm; zusätzlich muss die Mütterrente verbessert werden.

Die FDP propagiert die private Altersvorhersorge, weil sie sich vor politischen Übergriffen am besten schützten lässt. Ältere müssten mehr Gelegenheit erhalten, länger zu arbeiten.

Die Vertreter der Parteien waren:

Fazit

Grundsätzlich versuchten die Vertreter fast aller Parteien sich an das Zeitlimit zu halten und dabei viele der vom Publikum gestellten Fragen zu beantworten. Die straffe Moderation trug dazu bei.

Die Wissenschaftsdebatte im Münchner PresseClub hatte auf dem Internet-Portal einen Vorlauf von mehreren Monaten. Dort war u.a. der Vorwurf erhoben worden, dass der Zwangsruhestand ein Abschieben und eine Diskriminierung der Älteren sei. Ein Vertreter der Kölner Vermittlungsagentur „Rent-a-Rentner“ hatte berichtet, dass fast eine Million der Über-65-Jährigen einer Beschäftigung nachgingen.

Kommentare, Online-Stimmen

Nach dem Live-Event geht die Debatte online lebhaft weiter, wovon zahlreiche Wortmeldungen zeugen. Die Schaffung eines interaktiven und transparenten Forum, bei dem sich die gesellschaftlichen Partner auf Augenhöhe begegnen, wird allgemein begrüßt. Gerade weil Standpunkte so verschieden sein können, muss die Wissenschaft der Wirklichkeit Stimme verleihen, sagt Horst Morgan. Die Einheitsrente, übrigens auch von der Bertelsmann-Stiftung gefordert, findet große Unterstützung.

Gunda Krauss ist 74 Jahre alt, muss wegen ihrer nur kleinen Rente arbeiten und testet neue Mobilitätskonzepte für Senioren und Behinderte. Sie vermisst klare Aussagen der Politiker und ein Bekenntnis zum Rückbau des Beamtenstaats. »Unser Sorglos-Sozialsystem funktioniert so nicht mehr«, ergänzt sie. Man müsse viel tiefer, nämlich bei der Bildung ansetzen. Sie solle die jungen Menschen zu mehr Selbstverantwortung erziehen. Debattieren als Schulfach „fördert die Meinungsbildung und Toleranz“, meint Krauss: Nur integrative Ansätze führen aus der Misere!


Die TELI-Live-Debatte wurde unterstützt vom Netzwerk Gemeinsinn e.V. und Science Dialogue.
Fotos: Wolfgang C. Goede


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Erste Live Debatte baut Brücke von der Forschung zur Politik

LIVE-DEBATTE: Länger leben, flexibler arbeiten – mit Absturz in die Altersarmut?

TELI-Wissenschaftsdebatte: Hintergrund

Die TELI-Wissenschaftsdebatte wurde vor den Bundestagswahlen 2009 aus der Taufe gehoben. Ziel und Zweck ist die bessere Einbindung von Bürgern, Wählern, Steuerzahlern in die Forschung. »Die Bürger fördern die Wissenschaft mit ihren Steuergeldern«, schreibt Erfinder Hanns-J. Neubert im Portal. Sie gäben den Wissenschaftlern die Freiheit, zu forschen. Damit hätten sie auch ein Recht zu erfahren und zu verstehen, was erforscht wird 5

Forschung sei keine Einbahnstraße, sagt Neubert: »In einer gebildeten Gesellschaft ist es nur angemessen, wenn die Bürger auch ihre Erfahrungen und ihr Wissen in die Forschung einbringen können. Nicht nur die Wissenschaft muss ihren Platz in der Gesellschaft finden (science in society), auch die Gesellschaft sollte ihren Platz in der Wissenschaft finden (society in science).«

Aber bereits vor vier Jahren ermittelte die Wissenschaftsdebatte: »Wissenschaft kommt in der Politik nicht mehr vor.« Das war der Titel einer Pressemitteilung, die die TELI am 14.09.2009 über den Informationsdienst Wissenschaft idw herausgab.

TELI-Wissenschaftsdebatte: Ausblick

Die deutsche Wissenschaftsdebatte ist grenzüberschreitend. Sie wurde auf der Euroscience Open Forum Konferenz ESOF 2010 in Turin Forschern und Journalisten aus ganz Europa vorgestellt. Das Format fand Nachahmer, etwa in Estland und Italien. Auf der Weltkonferenz der Wissenschaftsjournalisten WCSJ in Helsinki 2013 fand die Wissenschaftsdebatte im Juni erstmals ein weltweites Forum. Journalisten entdecken in ihr neue Arbeitsmöglichkeiten. Von EU-Vertretern wird sie als Plattform wahrgenommen, die die neue Wissenschaftsstrategie »Horizon 2020« beflügeln könnte. Das Programm mit einem Budget von 80 Milliarden Euro will Forschung in Europa voranbringen, wozu auch gehört, deren Ergebnisse näher an die Bevölkerung heranzubringen 6

English abstract

New Trialogue Links Research, Citizens and Politicians in Crucial Issues

Live longer, work more flexible – but watch out for the poverty trap

The European Commission wants to have more participation of citizens in the field of research and development. In January, Brussels will launch »Horizon 2020«. With a budget of 80 billion € it shall make Europe scientifically and technologically more competitive with the United States and Asian nations. This requires that research needs to be much more supported by the Europe’s citizenry. One way of accomplishing this might be Science Debates, invented by the German Association of Science Writers TELI. www.wissenschaftsdebatte.de is an online platform which addresses topics crucial for the future such as demography, energy, health and society in science. It collects opinions of scientists, politicians and representatives of the civil society on significant issues. After a critical mass has been reached, there is a live debate on the topic.

Recently this took place at the International Munich PressClub on the demographic development, retirement age, pension funds and, as a whole, the labor market. Title: “Live longer, work more flexible – but watch out for the poverty trap”. A scientist from the Munich Center for the Economics of Aging (Max Planck) presented research and evidence that citizens could work longer beyond mandatory retirement which would ease the demographic pinch. Young people have to pay for the pensions of an increasing senior population. An independent expert on retirement and representative of an NGO said that the problem is not so much of demographic nature but more one of distribution. The pension funds are badly administrated and favor civil servants. Thereafter, the moderator involved the audience and collected questions for the politicians.

Representatives of six parties were present, most of them candidates for parliament (Bundestag) at the upcoming federal elections in September 2013. They picked up on the experts’ statements as well as the citizens’ queries. As a result many agreed that Germany needs a basic pension which everyone has to contribute to and which everyone is entitled to, which shall promote more equality and justice as to avoid old age poverty. Many of the political representatives also agreed on the need to better support mothers and families, to improve working conditions as to prevent mental health problems and burnout, both of which have become very common in Germany. Last but not least, more flexibility in the retirement regulations could keep the German labor market on high standards, set off the increasing portion of old agers in the population and maintain the pension funds well filled.

A summary and documentation of the live debate will be sent to experts in this field and major media outlets to further stimulate the debate, accumulate more ideas and reach more consensus. And, of course, the debate is continuing on the Science Debate Platform, featuring a wide scope of opinions such as the one of the 74 year old lady who has to keep working to make a living, who engages in enhancing the mobility of elderly people and says: It all starts with education and pupils have to learn to debate in order to form opinions about complex issues, communicate them properly and to become tolerant of other people’s views. Which means that debates, in classrooms or about science, always promote our democratic skills to solve societal issues. Finally science is becoming a vital part of this. The EU, as a role model for the European nations, is already implementing this new understanding.


Author: Wolfgang C. Goede, German Association of Science Writers TELI, Vice Chairman, T: +49 89 351 5570, wolfgang.goede@teli.de, http://www.wissenschaftsdebatte.de

Further contact: Hanns-J. Neubert, former TELI chairman, inventor & designer of the German Science Debate, T: +49 40 41 80 43, hajo.neubert@teli.de, www.wissenschaftsdebatte.de

Endnote(n):

  1. Apotheken Umschau 15.07.13, S.56: B’tagswahl 2013 Zusammen alt werden
  2. Bundeszentrale f. polit. Bildung, http://www.bpb.de/izpb/55900/zur-aktuellen-lage-der-weltbevoelkerung?p=all“
  3. Börsch-Supan war verhindert und konnte sein Institut und dessen Forschungsergebnisse bei der Veranstaltung im PresseClub leider nicht präsentieren. Er tritt zum selben Thema auf bei den Wissenschaftstagen Tegernsee am 10. November 2013. Sie stehen unter dem Motto des Wissenschaftsjahres 2013: Die demografische Chance. Professor Börsch-Supan Thema: Pessimismus — fehl am Platz. Siehe auch: Wissenschaftstage Tegernsee
  4. Max-Planck-Forschung Spezial: Gesellschaft im Wandel
  5. http://www.teli.de/wissenschaftsdebatte/index2009.html“>TELI-Wissenschaftsdebatte von 2009
  6. GOEDE, Wolfgang C.: Demokratie und die Wissenschaftslücke – 2013-07-01

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