Die richtigen Fragen stellen

Von Axel Grychta:

Also, die angezettelte Debatte heißt Wissenschaftsdebatte. Und an einer Stelle wird dazu aufgerufen, „die großen Fragen der Forschung zu diskutieren“!

Aber:

  • Wird hier tatsächlich über die Wissenschaft debattiert, über die Forschung?
  • Gibt es überhaupt die Wissenschaft?
  • Zerfällt die Wissenschaft nicht in einen bunten Strauß von Einzeldisziplinen mit teils ganz eigenen Fragestellungen?
  • Debattieren wir über Struktur- oder Formalwissenschaften, also Mathematik und Logik?
  • Debattieren wir über Natur- und/oder Geisteswissenschaften?
  • Debattieren wir also über Physik, Astronomie, Chemie, Biologie, Geologie, usw. und/oder über Philosophie, Geschichte, Religion, Sprachen oder Kunst?
  • Debattieren wir über Ökologie, Ökonomie, Jura oder Medizin?
  • Debattieren wir tatsächlich die Frage: Was die Welt im Innersten zusammenhält?

Oder ist die Debatte derzeit eher eine Technikdebatte?

Der ursprüngliche Fragenkatalog und die daraus resultierenden Zusammenfassungen deuten das an. Stichworte sind: Energietechnik, Gentechnik, Informations- und Kommunikationstechnologien, Nano-Technologie.

Schärfer formuliert:

  • Debattieren wir hier nicht nur die Auswirkungen der Technik?

Noch schärfer formuliert:

  • Debattieren wir die nicht intendierten, die unerwünschten Nebenwirkungen der wirtschaftlich-technischen Produktionsprozesse?

Stichwort: Globale Erwärmung

Neben tatsächlich kriminellen Machenschaften sind die Produktionsprozesse nicht darauf angelegt, Schaden anzurichten, sondern Nutzen zu stiften.

Dennoch:

Unter Entleerung natürlicher Ressourcen (Quellen), deren Umwandlung und Verdichtung werden unter Einsatz von Energie Produkte erzeugt, die letztlich als – teils hochtoxischer – Abfall (Senke) enden und die natürlichen Stoffkreisläufe teils drastisch ändern und die Lebensgrundlagen auf dem Planeten Erde gefährden können.

Zivilisationskrankheit Technik?

  • Haben wir also die richtige Technik?
  • Haben wir die richtigen technisch wirtschaftlichen Produktionsprozesse?
  • Welche Technik wollen wir haben?
  • Wie zukunftsoffen muss Technik sein?
  • Dürfen wir unumkehrbare Prozesse in Gang setzen, die zukünftige Generationen über die Maßen belasten?
  • Dürfen wir also Produkte in Umlauf setzen, für die es keine Filter gibt (Nanotechnologie)?
  • Sollten wir das Erbgut auf Genbasis verändern, um dadurch Pflanzen oder Tiere zu schaffen, die sich auf natürlichem Wege nie entwickelt hätten und deren Wechselwirkungen mit der Biosphäre unbekannt sind (Gentechnik)?
  • Dürfen wir eine Energietechnik einsetzen die tausende von Generationen dazu zwingt die nicht gelöste Entsorgung zu kontrollieren (Energietechnik)?
  • Beschreibt nicht der Satz „over newsed but under informed“ perfekt das Dilemma der aktuellen Informations- und Kommunikationstechnologien?

Vielleicht hilft ein Perspektivwechsel:

Aristoteles unterschied die folgenden wesentlichen Elemente:

Erde, Wasser, Luft und Feuer (Energie).

Welche Techniken garantieren auch in Zukunft,

  • dass wir unvergiftete Erde zur Produktion unserer Nahrungsmittel zur Verfügung haben werden (für alle Menschen),
  • dass wir saubere Luft zum Atmen haben,
  • dass wir genügend sauberes Süßwasser für alle Menschen bereit halten können?
  • Feuer intendiert Wärme und Licht: Ist der Mensch überhaupt an der Energiefrage interessiert? Nein, sondern an der Bedürfnisbefriedigung mit Hilfe von Energie: Wärme, Licht, Kraft. Die Quelle ist letzten Endes egal.

Welche Bedürfnisse hat der Mensch überhaupt?

Essen, Trinken, Schlafen, Kleidung, freies, glückliches, gesundes, sinnliches Leben.

Wer aber bestimmt über Glück, Freiheit etc. – welche Instanz?

Kürzlich gab es Zeitungsberichte, denen zufolge die Kirche den allgemeinen Werteverfall beklagt und für diesen Werteverfall die Wissenschaft verantwortlich macht. Ist also die Wissenschaft Schuld am ausufernden Kapitalismus, an Verarmung, an Krieg, an Hunger, an Wasserknappheit, an Krankheiten?

Heiner Geißler fragt in seinem Buch „Ou topos“ nach einem Ort, den es noch nicht gibt, den es aber geben sollte, ein Utopia ähnlich wie von Thomas Morus oder Bacon beschrieben. Und er skizziert einige unbequeme Wege dorthin.

Eckhard Ehlers beschreibt in seinem Buch „Das Anthropozän“ die Erde im Zeitalter des Menschen, wie es im Untertitel heißt. Die Überschriften des letzten, des 6. Kapitels lauten:

  • Das Anthropozän und die Fragen der Natur-Mensch-Umwelt Beziehungen heute: Eine rückblickende Vorausschau
  • Natur-Mensch-Umwelt-Forschung als Gegenstand einer neuen Interdiszplinarität
    Herausforderungen an Wissenschaft und Ethik – Ein Ausblick
  • Brauchen wir also eine „Vorratswissenschaft“, die Zukunft denkt?
  • Welche könnte das sein?
  • Brauchen wir nicht neben den Nachdenkern auch Vordenker?
  • Gibt es eine Leitwissenschaft?
  • Soll zukünftig die Ökonomie im Haus der Ökologie wohnen oder umgekehrt?
  • Wieviel Mensch verträgt die Erde?
  • Welches sind die limitierenden Faktoren des Planeten, welche die des technisch- wirtschaftlichen Produktionsprozesses?
  • Sind die Limitationen kompatibel?
  • Braucht man neben der Wissenschaftsdebatte nicht auch eine Wertedebatte?
  • Wer bestimmt, was gute Wissenschaft ist?
  • Wer bestimmt, was gute Technik ist?
  • Wer bestimmt, wie wir zukünftig leben wollen?
  • Wer bestimmt, was ein gesundes, erfülltes Leben in Freiheit ist?

Lassen sich für die Fakten- und die Wertefragen überhaupt Bewertungskriterienkataloge formulieren?

Gibt es etwa schon Antworten auf die hier aufgestellten Fragen?

  • Wenn ja, lassen diese sich thesenhaft zusammenfassen?
  • Sind die Antworten einheitlich oder kontrovers?
  • Worin besteht die Kontroverse?
  • Wie lässt sie sich auflösen?

Wenn es schon Antworten gibt, warum dann „business as usal“?

Gibt es in dem komplexen Wechselkreis „Wissenschaft-Technik-Wirtschaft-Politik“ Beziehungsverknüpfungen – womöglich skandalöse, die Lösungen behindern oder unmöglich machen?

  • Welche Antworten auf dringende Fragen liegen in den Forschungssafes der Wirtschaft – aber nicht nur dort –, die aus rein ökonomischen Gründen zurückgehalten werden?
  • Wie wirkt auf welche Art und Weise Lobbyismus?
  • Wie steht es um die Wissens- und damit auch Entscheidungskompetenz in unseren Parlamenten?
  • Welche Interessenskonflikte gibt es?

Das Forum für Verantwortung (eine Stiftung von Klaus Wiegandt) diskutierte beispielsweise folgende Fragen, deren Antworten bzw. Antwortversuche man in Buchform nachlesen kann:

  • Was verträgt unsere Erde noch? Wege in die Nachhaltigkeit
  • Kann unsere Erde die Menschen noch ernähren?
  • Bringen wir das Klima aus dem Takt? Hintergründe und Prognosen
  • Nutzen wir die Erde richtig? Die Leistungen der Natur und die Arbeit der Menschen
  • Wie lange reicht die Ressource Wasser? Vom Umgang mit dem blauen Gold
  • Wie schnell wächst die Zahl der Menschen? Weltbevölkerung und weltweite Migration
  • Was sind die Energien des 21. Jahrhunderts? Der Wettlauf um die Lagerstätten
  • Wie bedroht sind die Ozeane? Biologische und physikalische Aspekte
  • Wie muss die Wirtschaft umgebaut werden? Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung
  • Wächst die Seuchengefahr? Globale Epidemien und Armut: Strategien zur Seucheneindämmung in einer vernetzen Welt
  • Ende der Artenvielfalt? Gefährdung und Vernichtung von Biodiversität
  • Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Wege in eine nachhaltige Politik.

Abschließend:

  • Lassen sich menschliche Bedürfnisse durch technisch-wirtschaftliche Prozesse derart befriedigen, dass die Ressourcen, die der Planet Erde zur Verfügung stellen kann, nicht vernutzt werden (nutzlos, toxisch in Senken entsorgt) und einer notwendigen und hinreichenden Biodiversität Platz bieten?
  • Welche technisch-wirtschaftlichen Prozesse sind dazu notwendig?
  • Welche Fragen sind dazu von den Wissenschaften zu beantworten?

Um diesen Katalog gemeinsam mit allen interessierten gesellschaftlichen Gruppen zu erarbeiten, zu kommentieren, zu moderieren, sollte dieses Haus der Wissenschaftsdebatte wirklich stabil zusammengezimmert werden.

Fragen, die nicht so recht in den oben dargestellten Gedankengang passen, die man aber der Wissenschaft stellen sollte:

  • Warum gibt es Betrug in der Wissenschaft?
  • Ist das systemimmanent?
  • Publish or perish, Klasse statt Masse?
  • Kann Wissenschaft frei sein?
  • Ist sie nicht gelenkt von den Eigeninteressen der Individuen?
  • Ist sie nicht gelenkt von den Fördertöpfen der Politik?
  • Beisst ein Hund die Hand, die ihn füttert? Spätestens seit Kuhn wissen wir auch, dass wissenschaftliche Ergebnisse, die nicht „ins Bild passen“, von der scientific community totgeschwiegen oder schlicht „verboten“ werden.

Kann die Wissenschaft also wirklich die Instanz zur Beantwortung der zukunftsorientierten Fragen sein?

Ich hoffe auf Kommentare und bin an einer Weiterführung der Diskussion höchst interessiert.

Axel Grychta 2014-10-16

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2 Gedanken zu “Die richtigen Fragen stellen

  1. Ich mache es mal nicht so populistisch-feudalistisch wie Kollege Goede, und blicke auch nicht auf die Herkunft politischer Willkür, die es auch in früheren Demokratien bisweilen gegeben hat!

    Nur ganz handwerklich ein paar Antworten zu den Schlußfragen von Axel Grychta:
    Warum gibt es Betrug in der Wissenschaft?
    … weil sie von Menschen betrieben wird, und weil Menschen nicht eo ipso Engel sind. Es gilt allerdings, in der scientic community dafür zu sorgen, dass Betrug vermieden und schnell aufgedeckt wird.

    Ist das systemimmanent?
    … ja, jedenfall solange wir noch keine Roboter als Wissenschaftler geschaffen haben 😉

    Publish or perish, Klasse statt Masse?
    … ich halte diese beliebte Formel für schwarz-weiss-Malerei, die bei flüchtiger Betrachtung irreführend wirkt. Vielmehr freue ich mich, dass die Welt eben weder weiß noch schwarz ist, nicht einmal grau ist sie, sondern ziemlich (kunter)bunt. Masse ist kein generlles Ausschlußkriterium für Klasse.

    Kann Wissenschaft frei sein?
    … nein, aber das muss sie auch gar nicht. Freiheit ist keine Ware, sondern ein ideeller Begriff. Es geht vielmehr darum, die Einflüsse, denen Wissenschaftler ausgesetzt sind, bewusst zu machen und die Randbedingungen verständlich zu machen, unter denen Wissenschaftler arbeiten. Aber das gilt in vielen anderen Bereichen/Berufen/Funktionen gleichermaßen.
    Als „freier Bürger“ dieses Landes bin ich 24/7/365 den verschiedensten Restriktionen ausgesetzt und völlig unfrei. Dennoch bleibt ein immenser Spielraum für eigene (freie ?) Entscheidungen.

    Ist sie nicht gelenkt von den Eigeninteressen der Individuen?
    … ja, das ist sie! Und das müssen Wissenschaft und Forschung auch sein! Aber bitte, die Eigeninteressen der forschenden Individuen sind nur einer von sehr vielen Faktoren/Fremdfaktoren.

    Ist sie nicht gelenkt von den Fördertöpfen der Politik?
    … ja, wenn zwischen den Worten „nicht“ und „gelenkt“ ein AUCH steht. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl anderer Lenkungsmechanismen (gemeint sind: Anreize).

    Beisst ein Hund die Hand, die ihn füttert?
    … die Lösung des Problems liegt in der Vielfalt der Interessen. Wissenschaftler sind keine Hunde, die nur einen Herrn haben, der sie füttert, und wenn Herrchen mal kein gutes Futter liefert, schnappt der Hund auch schon mal zu.

    Spätestens seit Kuhn wissen wir auch, dass wissenschaftliche Ergebnisse, die nicht “ins Bild passen”, von der scientific community totgeschwiegen oder schlicht “verboten” werden.
    … hm, das ist (leider) überhaupt nichts Neues in der langen Geschichte der Wissenschaft und der Geschichte der Menschheit. Wissenschaft erfordert eben auch Mut, sich „aus dem Bild zu rücken“; sie birgt auch das Risiko für Fehleinschätzungen und Fehlinterpretationen. Aber das sollte ja auch ein Stück Systemimmanenz der Wissenschaft sein.

  2. So lange der Mensch „nur“ ein Mensch ist, wird Wissenschaft all die oben aufgelisteten negativen Eigenschaften bedienen, also „auch“ korrupt & betrügerisch, unfrei sein und Eigeninteressen erfüllen, etc.pp.

    Nach allem, was wir gemeinhin akzeptieren, haben Aufklärung und Französische Revolution uns einen gesellschaftlichen Quantensprung beschert, vom Feudalismus zur Demokratie. Politik wurde mehr der Kontrolle durch den Bürger unterworfen und ist seither weniger willkürlich.

    Wissenschaft hingegen ist zum Teil noch feudalistisch. Die Wissenschaftsdebatte vollzieht den ausstehenden Quantensprung und bindet die Bürger*innen ein in die Anwendung von Wissenschaft. In diesem Dialog dürfen und sollten all die für die Forschung unbequemen Fragen zur Sprache kommen.

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