Großes gesellschaftliches Schweigen

by Manfred Ronzheimer | 31. August 2015 21:01

„Im Kontext Großer gesellschaftlicher Herausforderungen kommt dem Dialog zwischen wissenschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Akteuren eine besondere Bedeutung zu, besonders wenn sich diese nicht nur auf die Kommunikation von Forschungsergebnissen beschränkt, sondern den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren Beteiligungschancen bei der Formulierung und gegebenenfalls auch Bearbeitung von Forschungsfragen einräumt.“

Ein Satz mit Sprengkraft. Er hat es schließlich doch in die Schlussfassung eines Positionspapiers geschafft, das der Wissenschaftsrat im April 2015 verabschiedete. (1) Sein Titel: “Zum wissenschaftspolitischen Diskurs über große gesellschaftliche Herausforderungen“. (2)

Gestrichen wurde dagegen die Formulierung des Entwurfs, die es noch klarer ausdrücken wollte: „Der Wissenschaftsrat erkennt im Kontext der Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen das berechtigte Interesse nicht-wissenschaftlicher gesellschaftlicher Akteure an, an der Gestaltung von Forschungs- und Innovationsprozessen mitzuwirken.“ Dass es dieser Satz nicht in die publizierte Endfassung schaffte, darf so interpretiert werden, dass aus Sicht des WR das Interesse nicht berechtigt ist.

Vorangegangen war ein über Erwarten langwieriger, weil kontroverser zweijähriger interner Diskussionsprozess im Rat. (4) Die Stellungnahme ist daher auch gefüllt mit Konsensformulierungen und einer Addition von „Desideraten“, die aber nun, nach dem Wunsch des Gremiums, bitte anderswo abgearbeitet werden sollen.

Erstaunlich indes: Der Ball, den der Wissenschaftsrat ins Spielfeld der wissenschaftspolitischen Debatte geworfen hat, wird nicht aufgefangen. Der Diskurs über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, vor allem über gegenseitige Einflussnahmen, kommt seit Monaten nicht zustande. Intensiv hatte der Wissenschaftsrat reflektiert, welche großen Aufgaben sich der Gesellschaft heute und künftig stellen – sei es Klimawandel, Demografie oder Welternährung – und welchen Beitrag wissenschaftliche Forschung zu ihrer Bewältigung leisten könne. Das Papier liefert zwar keine fertigen Antworten, versteht sich aber als Schritt zu einer präziseren Fragestellung. Bereits 2013 hatte sich der Wissenschaftsrat Gedanken zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft gemacht (5).

Warum dieses Schweigen? Befinden wir uns doch in einem Jahr, das – über die Neuformulierung der „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nation oder dem Klimagipfel in Paris – günstige Rahmungen für einen breiteren Wissenschaftsansatz anbietet. Auf dem G7-Gipfel in Elmau wurde dies, im Schulterschluss von Wissenschaft und Politik, in drei Fällen (Antibiotikaresistenzen, Tropenkrankheiten und Zukunft der Meere) bereits praktiziert.

Vor drei Jahren war es noch anders. Damals entfachten zivilgesellschaftliche Organisationen, vor allem von Seiten der Umweltverbände, eine energische Diskussion über die Vernachlässigung des Themas „Nachhaltigkeit“ in der deutschen Wissenschaft. Symposien bis hinauf in die Spitzen der führenden Forschungsorganisationen waren die Folge. Sogar eine Zivilgesellschaftliche Plattform „Forschungswende“ wurde von den Verbänden ins Leben gerufen. Heute, bei der Erweiterung um Themen auch jenseits der Ökologie, bleibt derlei diskursives Engagement aus. Sind die „Großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ zu gesellschaftsfremd? Das ist zumindest definitorisch unmöglich.

Einem „normalen“ gesellschaftlichen Diskursmodus hätte es entsprochen, wenn das Papier des WR eine gewisse, durchaus begrenzte Zahl, von Reaktionen aus dem gesellschaftlichen Raum – Interessenorganisationen wie Einzelpersönlichkeiten – nach sich gezogen hätte. Von Applaus („Endlich“) bis Verriss („Elfenbeinern“). Doch es kommt nichts. Bis auf eine Handvoll Statements in der schmalen Nische wissenschaftlicher Blogs (3) hat die Äußerung des Wissenschaftsrates keine Beachtung gefunden. Auch nicht in der Presse. Das ist unverhältnismäßig.

Der Grund für dieses Schweigen liegt nicht im Papier. Auch nicht ausschlaggebend am Stil der häufig abgehobenen innerwissenschaftlichen Erörterungen, wie derzeit über den „Solutionismus“ der „Transformativen Wissenschaft“. Der Grund liegt in einem Wandel gesellschaftlicher Diskursfähigkeit, die in unserm Land heute erkennbar dabei schwächelt, die großen Probleme adäquat zu erkennen und lösungsorientiert zu verhandeln. Ich räume ein: Die Medien haben ihren gerüttelten Anteil daran.

Manfred Ronzheimer

(1) http://www.wissenschaftsrat.de/presse/pressemitteilungen/2015/nummer_09_vom_27_april_2015.html

(2)
http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4594-15.pdf

(3)
http://nachhaltigewissenschaft.blog.de/2015/04/27/wichtiger-sprung-vorne-erste-bewertung-wissenschaftsrat-beschlossenen-positionspapieres-wissenschaftspolitischen-diskurs-grosse-gesellschaftliche-20257563/

(4)
http://www.taz.de/!5021356/

(5)
http://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=3613

Source URL: http://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=5313