Elite ETH Zürich – von vorgestern

by Wolfgang Goede | 27. November 2016 21:42

Weckruf aus der Schweiz: Streitschrift liest renommierter ETH Zürich Leviten. Es fehlen ihr: Akademiker mit kulturübergreifender Kompetenz, Mut zum Sich-Einmischen, Vorantreiben einer Nord-Süd-Kooperation, wider den wachsenden Terror. Modell für die aufgeklärte Universität des 21. Jahrhunderts. Ein Gastbeitrag des Züricher Wissenschaftsjournalisten Beat Gerber.

Wider den Staub des 19. Jahrhunderts: Streitschriftautor Beat Gerber (c) Olaf Konstantin Krueger

Wider den Staub des 19. Jahrhunderts: Streitschriftautor Beat Gerber (c) Olaf Konstantin Krueger

„Bisher ist es der Wissenschaft nicht gelungen, umsetzbare Lösungen für globale Herausforderungen wie Klimawandel, Energie oder Ernährungssicherheit in die Gesellschaft zu tragen“, schreibt der Autor in seinem Resümée. „Auch die topgesetzte ETH Zürich wirkt immer noch privilegiert und abgeschottet im Elfenbeinturm.“ Die Forschenden müssten sich künftig in wichtige Entscheidungen einmischen, fordert seine Streitschrift über die Schweizer Elite-Hochschule. Hier Gerbers eigens für die TELI wissenschaftsdebatte.de verfertigter Text.

BESTE KONTINENTALEUROPÄISCHE UNIVERSITÄT, ABER …

Deutschlands Hochschulen bewerben sich bei der Exzellenzinitiative um den Status als «Elite-Universität», die kleine Schweiz hat jedoch bereits eine solche Vorzeige-Institution: Die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich gilt als beste kontinentaleuropäische Universität und geniesst weltweit einen exzellenten Ruf. Rankings setzen das 1855 gegründete Polytechnikum auf eine Spitzenposition, die nur von Eliteschulen in den USA und Grossbritannien übertroffen wird (Rankings 2016: 8. Rang QS, 9. Rang THE). Die bundeseigene Bildungs- und Forschungsstätte zehrt auch von einer honorigen Vergangenheit, wirkten hier doch zahlreiche prominente Wissenschaftler als Professor oder Student, so etwa Wilhelm Conrad Röntgen, Albert Einstein oder Wolfgang Pauli.

GESTRIGER ELITÄRER GEIST

Was jedoch der ETH heute fehlt, ist eine überzeugende, couragierte Vision, wie das erforschte Wissen besser der Allgemeinheit (auf Neudeutsch: Zivilgesellschaft) dienen könnte. Dieser sozial lohnenden Weitsicht stellen sich freilich einige Hürden entgegen. In den hochmodernen Studierstuben und Labors blühen nicht nur akademische Bravour und Avantgarde, ebenso keimen Untugenden wie Kleinmut, Dünkel und Missgunst. Wer in die dunklen Winkel der Hochschule leuchtet, schreckt dort einen erstaunlich gestrigen und elitären Geist auf. Die verkappt konservative Gesinnung blockiert den bitter nötigen Wandel hin zu einer gesellschaftlich wirksameren Wissenschaft.

MYTHOS DER NEUTRALEN WISSENSCHAFT

___bild-3-titelblatt-streitschrift-bgerberDie soeben erschienene Streitschrift «An den Tisch der Mächtigen!» kratzt manchmal streng, mitunter satirisch am «Lack» der Hochschule von Weltrang. In acht Kapiteln werden so ziemlich alle scheinbaren Gewissheiten der Forschungswelt niedergerissen. Vom «Mythos der neutralen Wissenschaft» über die «Mär der ganzheitlichen Forschung» bis hin zu «Geld und Geist im Wissensgeschäft» prangert das rote Büchlein die negativen Tendenzen in der Wissenschaft an: Publikationsdruck (Publish or Perish), wissenschaftliches Fehlverhalten (Plagiate, Fälschungen), Abhängigkeiten von der Industrie (Sponsoring). Diese betreffen bei weitem nicht nur die ETH, werden dort aber auch kaum hinterfragt.

EXODUS SCHWEIZER FORSCHER?

Derzeit bläst der Forschung ein kühler Wind entgegen, man denke an schrumpfende Budgets oder wissenschaftsfeindliche Strömungen (Brexit, Trump-Wahl). In der Schweiz droht zudem aufgrund von ungeklärten politischen Verträgen mit der EU (Personenfreizügigkeit) ein Ausschluss aus den lukrativen EU-Forschungsprojekten (Horizon 2020). Viele namhafte Wissenschaftler, zahlreiche talentierte Forscherinnen liebäugeln daher (im Stillen) mit dem Wegzug. Im Weiteren ist die Wissenschaft im Umbruch, bewegt sich weg vom Geniekult, der nur einsame Helden feiert (statt interdisziplinäre Teams). Aufwind haben neue Entwicklungen wie öffentlich verfügbare Daten aus Experimenten (Open Data), Einbezug der Bürger in die Forschungsarbeit (Participation) und rundum zugängliche Publikationen (Open Access).

GLOBAL GERECHTE WISSENSCHAFT

Dieser Wandel böte auch der ETH Zürich Chancen, ihren prätentiösen Geist anzupassen. Die renommierte Institution könnte weit mehr tun, damit Wissenschaft global gerechter und sozial wirksamer würde. Sie darf sich nicht mit der Erforschung effizienter Technologien und der Ausbildung hochspezialisierter Fachleute begnügen; gefragt sind interdisziplinäre und kulturübergreifende Kompetenzen.

UNGLEICHHEIT FÜHRT ZU TERROR

Die wachsende Ungleichheit zwischen Nord und Süd als primäre Ursache von Arbeits- und Perspektivlosigkeit, von Kriegen, Flüchtlingsströmen und Terror hat sich weiter akzentuiert. Die Hochschulen des Nordens sollten keinesfalls ihr generiertes Wissen ungefiltert an die Schwesterinstitutionen des Südens transferieren, sondern müssen dort intensiv und solidarisch mithelfen, eine indigene Wissenschaft zu etablieren. Die ärmeren Staaten in Afrika und Asien brauchen für ihre Entwicklung (nebst Investitionskapital) eigene, angepasste Technologien, um damit selbst eine moderne Wirtschaft aufzubauen und dauerhafte Arbeitsplätze zu schaffen.

SCHLÜSSELROLLE DES NORDENS

Gerber bei BJV Veranstaltung im Münchner PresseClub (c) Olaf Konstantin Krueger

Gerber bei BJV Veranstaltung im Münchner PresseClub (c) Olaf Konstantin Krueger

Die Universitäten des Nordens spielen beim gebotenen Ausgleich der weltweiten Ungleichheit eine Schlüsselrolle. Ihr Profil müssen sie jedoch den veränderten Gegebenheiten anpassen. Ein solcher Paradigmenwechsel geht allerdings nicht von heute auf morgen, gerade altehrwürdige Hochschulen wie die ETH Zürich halten beharrlich am Bestehenden fest.

VIER-PUNKTE-REFORM-PROGRAMM

1 In Entscheidungsprozesse einmischen: Aufbau einer akademischen Plattform (zusammen mit andern Spitzenuniversitäten), die Regierungen und Staatenbünde bei wichtigen politischen Entscheiden berät und beeinflusst.

2 Solidarität mit dem Süden zeigen: Förderung der Zusammenarbeit mit Universitäten in ärmeren Staaten, um sie bei der Erforschung und Anwendung (Ausbildung) von indigenem (einheimischem) Wissen zu unterstützen. Auf der Karte der internationalen Kooperationen der ETH Zürich gibt es viele vernachlässigte «schwarze Löcher».

3 Bewusstseinsbildung im eigenen Haus intensivieren: Umfassende Integration des kritischen Denkens und Dialogs in sämtliche Studiengänge (mit Prüfungspflicht). Soziale, kommunikative und interkulturelle Kompetenzen sind den fachlichen Fähigkeiten gleichzusetzen.

4 Haltung gegen außen manifestieren: Durch entsprechende Positionen kann eine Hochschule ihre Glaubwürdigkeit (und ihren Einfluss) stärken, etwa durch Verzicht auf Forschungsgelder von korrupten und umweltschädigenden Unternehmen oder Organisationen. Mehrere namhafte Universitäten (wie Oxford, Cambridge, Yale etc.) unterstützen z.B. die internationale Fossil-Free-Kampagne und lösen finanzielle Beteiligungen auf, die zur Erforschung und Ausbeutung fossiler Energiereserven vorgesehen sind.

AUSLÖSER DER STREITSCHRIFT

Ende 2014 hielt Gerber auf Einladung des Bayerischen Journalisten-Verbands im Münchner PresseClub ein Referat mit dem Titel „Spindoctoring for academic divas“. Dabei berichtete er von seinen langjährigen Erfahrungen in der „Teppichetage“ der ETH Zürich. Dort wirkte er sieben Jahre als Spindoktor des Hochschul-Präsidenten. Der Vortrag thematisierte den verstaubten universitären Geist mit der kritiklosen Huldigung akademischer Lebenslügen wie wertfreies Wissen, Unabhängigkeit von Sponsoren. Die Veranstaltung im PresseClub sowie die anschließende Diskussion im Kollegenkreis motivierte ihn zum Verfassen des Buchs.

ZUR PERSON UND BUCH

Beat Gerber ist Alumnus der ETH Zürich (Bauingenieur), langjähriger Wissenschaftsjournalist, einstiger Präsident (1996-2001) des Schweizer Klubs für Wissenschaftsjournalismus (SKWJ) und heute dessen Ehrenmitglied.

«An den Tisch der Mächtigen! – Streitschrift für einen beherzten Geist der ETH Zürich» (ISBN 978-3-033-05851-4) ist erhältlich über www.dot-on-the-i.ch.

Source URL: http://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=5881