Hype um Achtsamkeit – Vorsicht Nebenwirkungen!


Je stärker uns Stress und Arbeitstempo belasten, desto populärer wird die Achtsamkeitslehre. Das Radio Lora Wissenschaft-kontrovers-Team, Sophia Dreyer (M.) und Günter Löffelmann (r.), debattierte darüber mit Dr. Britta Hölzel (l.), Psychologin, Neurowissenschaftlerin und Achtsamkeits-Trainerin (s. Foto). Auf welche wissenschaftlichen Erkenntnisse stützt sich die aus dem Buddhismus abgeleitete Achtsamkeit, ist sie gar esoterisch, für wen eignet sie sich und für wen nicht – wird sie überbewertet, ein Modetrend?

Die Studio-Gästin definierte Achtsamkeit als „bewusst da zu sein und am eigenen Leben teilzuhaben“. Offen sein und ohne Bewertung, sich selbst freundlich zugewandt. Mit der Meditation als Übung und Mittel, zu größerer Achtsamkeit zu gelangen. Und was brächte einem das, wollte die TV-Journalistin Dreyer wissen.

Jenseits des Geratteres

„Einen Zugewinn an wertschätzendem Dasein“, antwortete Hölzel. Konkret, nicht To-Do-Listen abhaken, sondern den Geist beobachten, wie ticke ich, welche Steine lege ich mir in den Weg, wenn ich immer nur der Vorstellung nachhänge, wie es im Leben zu sein habe. Wie aus solcher Grübelei auch Katastrophenszenarien entstünden und wie ich aus diesem Strudel aussteige.

Wer sich selbst gewahr werde, so die Psychologin, erfahre eine tiefe innere Ruhe, „jenseits des Geratteres im Kopfe“.

Hilfe bei Ängsten

Auf Nachfrage von Medizinjournalist Löffelmann sagte sie, dass es über diese Wirkung noch nicht so viele wissenschaftliche Befunde gebe. Am besten sei der Effekt von gesteigerter Achtsamkeit auf die mentale Gesundheit untersucht. Regelmäßig und ordentlich praktiziert, lindere sie Depressionen, Ängste und Abhängigkeiten. Aber wie?

„Durch eine Verbesserung der Selbstregulation“, antwortete Hölzel. Aufnahmen vom Gehirn mithilfe eines Kernspintomografen zeigten eine hohe Plastizität unseres Denkorgans und wie rasch sich dieses aufgrund bestimmter Reize umbauen kann.

Modeerscheinung?

Zu unserem Nachteil, wenn wir unachtsam in unsere Ratter- und Grübelschleifen verfielen, positiv, wenn wir sie durch Selbstachtsamkeitsübungen ausschalteten, im Idealfall an wenig oder nichts dächten. Bereits ein achtwöchiges Training führe zu gehirnorganischen Veränderungen. Und wer seit 30 Jahren meditiere, so die Neurowissenschaftlerin, die oder der zeige deutlich andere Aktivierungsmuster und ist stressresistenter.

Achtsamkeit kommt aus dem fernöstlichen Buddhismus, in dem diese Geisteshaltung ein religiös-philosophischer Lebensweg ist und vom irdischen Leiden befreit, durch: Loslassen. Das wirft die Frage auf, ob Menschen anderer Kulturen eine solche, für sie eher esoterische Haltung wirklich verinnerlichen können – oder wie die Moderatorin formulierte: „Ist dies eine Modeerscheinung, die so schnell wieder verpufft, wie sie aufgepoppt ist?“

Kein Allheilmittel!

Die Lora-Gästin wies das nicht von der Hand und verwies auf die Studie „Mind the Hype“ über den Themenkomplex „Mindfulness“. Wissenschaftliche Befunden würden zum Teil überstrapaziert und Studien „mit nicht so signifikanten Ergebnissen werden in den Medien erst gar nicht veröffentlicht“. Achtsamkeit sei kein Allheilmittel, betonte Hölzel, sondern „potenziell transformativ bei Menschen, die das konsequent machen“.

Löffelmann hakte nach und fragte, ob sich die Achtsamkeitsbewegung nicht einen Bärendienst erweise, wenn die Lehre jetzt auch immer mehr in Betrieben und im Gesundheitsmanagement Fuß fasse und damit eventuell alles Negative der Arbeit ausgeblendet werde.

Übung für den Supermarkt

„Es ist nicht verwerflich, wenn Menschen besser arbeiten und weniger krank sind“, antwortete Hölzel. Die Praxis von Unternehmen, Trainings auszuschreiben, folge einer guten Absicht. Doch die Budgets ließen meistens keine längeren Kurse zu, sodass nur ein Geschmack vermittelt werden könne. „Wichtig ist, die Führungskräfte mit einzubeziehen“, sagte sie, und eine allgemeine Sensibilität für Stress am Arbeitsplatz zu entwickeln. Yoga ergänze Achtsamkeitsübungen gut.

„Wie schaffe ich es, im Alltag oder sogar im Büro zu meditieren?“, fragte Dreyer. Eine halbe Stunde lang am Tag abzuschalten und an nichts zu denken zeitigten bereits gute Erfolge, sagte die Expertin. Das gehe auch im Supermarkt, etwa beim Warten an der Kasse. „In der Situation sein, im Trubel innehalten, den Körper, den Atem spüren“, empfahl sie.

Indikationen & Kontraindikationen

Löffelmann brachte Beispiele über negative Auswirkungen von Achtsamkeitsexerzitien in die Debatte. Etwa unangenehme Gefühle von Brustenge und dass erst die Übungen Menschen ins Grübeln verfallen ließen. Er fragte, ob Achtsamkeit mit einem Beipackzettel versehen werden müsste, die auf Indikationen und Kontraindikationen verwiesen.

Hölzel räumte ein, dass sich Menschen in Psychosen hineinmeditiert hätten und dass die Erfahrungen aus nicht bewältigten Traumata wieder hochkommen könnten. Der Grund liege darin, dass das Konzentrieren auf uns selbst die Filter im Kopf wegräume, die vor unliebsamen Erinnerungen schützten. Weshalb belastete Menschen, unterstrich sie, Achtsamkeit nur unter Anleitung eines Therapeuten praktizieren dürften.

Missbrauch durch Militär?

Weitere Zweifel, so Löffelmann, werfen militärische Praktiken auf. Soldaten werden mit Achtsamkeit auf höhere Leistungsfähigkeit und bessere Konzentration getrimmt, was mit Empathieverlusten einhergehe. Hölzel erblickte darin auch ein Potenzial für umsichtigeres und überlegteres Handeln. „Der kaltblütige Schütze ist nicht, wovon wir reden.“ Gleichwohl, eine ohne Ethik praktizierte Achtsamkeit sei keine Achtsamkeit.

Am Ende der Sendung machte die Psychologin mit den Moderatoren und den Zuhörerinnen und Zuhörern eine Achtsamkeitsübung, die auch aus dem autogenen Training bekannt ist. Den Körper spüren, die Füße auf dem Boden, Beine und Schultern entspannen, dem Atem folgen, sein Ein- und Ausströmen erleben, in der Nase wie in Brust und Bauch, einfach hier sein und sich bewusst wahrnehmen.

Glücklich sein!

Hölzels abschließende Botschaft: „Jeder darf sich selbst entscheiden, glücklich zu sein – jetzt und vollkommen, wenn er seine Bewertungen über Bord wirft.“

Eine Audiodatei der Sendung findet sich bei
https://www.form-und-fuellung.de/achtsamkeit-hype-oder-allheilmittel/

Die nächste Wissenschaft Kontrovers Sendung bei Radio Lora ist am 5. Dezember 2019 um 20 Uhr. Sie untersucht Grenzwerte in der Medizin (von Blutdruck bis WHO DSM Katalog Psychische Störungen) und stellt die Frage: Machen sie uns gesünder oder kränker?

[ Artikel drucken ]

Ein Gedanke zu “Hype um Achtsamkeit – Vorsicht Nebenwirkungen!

  1. Jetzt soll man noch nicht mal seinem „Gerattere“ und seinen Grübeleien folgen dürfen. Aber genau das ist es doch, was das Leben ausmacht: Einfach nur denken, den Körper, das Gehirn einfach denken lassen.

    Auch das bewusste Durchdenken von Depressionen, Ängsten und Abhängigkeiten führt dazu, sich über die Ursachen klar zu werden.

    Wenn wir in unsere Ratter- und Grübelschleifen verfallen, dann haben wir ja auch die Chance, Dinge zu klären, können besser die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Vorgänge durchblicken und daraus Konsequenzen für unser Leben ziehen.

    Wenn wir die Ratter- und Grübelschleifen durch Selbstachtsamkeitsübungen aber ausschalten, im Idealfall an wenig oder nichts denken, lernen wir ja auch nichts, weder für uns, noch für unser Handeln als gesellschaftliche Wesen.

    Ich plädiere für mehr Denken! Für mehr Lernen, für mehr Bildung. Nur so können wir die Welt verändern. Das Nicht-Denken und Nicht-Nachdenken, das Versenken in sich selbst hat uns doch in die existenziellen Krisen von Klimawandel und Artenschwund gebracht!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert