Corona-Wissenschaft: Sind wir jetzt wirklich klüger?

Lob und Tadel für die Wissenschaft in der Corona-Krise. Darum ging’s beim Bürgerradio Lora (München 92,4) am letzten Donnerstagabend. Die beiden Moderatoren Günter Löffelmann (GL), Biologe, und Wolfgang Chr. Goede (WG), Politologe, debattierten die Frage: „Wissen wir jetzt wirklich mehr“? Hier zehn Kernfragen aus der Kontroverse (paraphrasiert, wörtlich nachzuhören unterm Link unten).

Was ist Wissenschaft?

GL: Sie öffnet uns die Augen. Erklärt uns, was die Welt zusammenhält. Begeistert und ermöglicht Fortschritt. Aber sie kann nicht alle Fragen beantworten. Besonders auch nicht die aktuellen zur Corona-Pandemie.

WG: Sie ist unsere allerbeste Methode der Wahrheitssuche. In der Theorie. In der Praxis hat Wissenschaft erhebliche Defizite. Sie ist zu wenig in Gesellschaft und Politik eingebunden. Kommuniziert ungenügend.

Gibt es dafür aktuelle Corona-Beispiele?

WG: Die Verunsicherung über die Risiken für Kinder (Kawasaki Syndrom und Todesfälle). Ganz aktuell die Frage, wie groß die einzuhaltende soziale Distanz sein muss. Zwei Meter ist ein eher willkürlicher Wert. Neueste Atmosphärenforschung kommt zum Schluss, dass die Aerosolwolke des Menschen und darin befindlichen Viren viel weiter reicht.

GL: Hat die Gesellschaft nicht zu hohe Erwartungen an die Wissenschaft? Auch weil Menschen mit Ungewissheit so schlecht umgehen können?

WG: Vielleicht, aber bessere Kommunikation schüfe mehr Sicherheit. Ein Beispiel sind die um die Welt gegangenen Bilder und Kommentare von US-Präsident Trumps unsäglichen Pressekonferenzen. Dabei stand sein wissenschaftlicher Berater, der angesehene Immunologe Dr. Fauci. Trump hat die Risiken der Pandemie wochenlang heruntergespielt, sogar Bleichmittel als Heilmittel empfohlen. Fauci war zugegen, hat zwar Grimassen geschnitten, später aber nur sehr verhalten dagegen argumentiert. Wo war der Aufstand der internationalen Wissenschaft gegen ihren Missbrauch durch die Politik? Für mich die Kastration der Wissenschaft.

Öffentlichkeit – ausreichend über Corona informiert?

GL: In Deutschland gab es spezielle Talksendungen zu Corona. Die ARD hatte sogar eine tägliche Sondersendung. Ich sehe keine kommunikativen Defizite.

WG: Sind wir dadurch wirklich klüger geworden? Wissen wir, wo das Virus herkam, wo es mit uns hingeht. Allein die verwirrende Fülle der unterschiedlichen Maßnahmen der einzelnen Bundesländer? Insgesamt registriere ich – was die Rechte politisch nutzt – große Desorientierung. Info-Flut, Widersprüche, Verwirrung. Wie während der Tschernobyl-Reaktorschmelze 1986.

Wie erfolgreich ist die Corona-Wissenschaft?

GL: Der Krankheitserreger wurde in Rekordzeit identifiziert, ebenso schnell Tests entwickelt. Mit neuen Impfstrategien stehen wir vor einem Innovationssprung. Ich finde, Wissenschaft hat einen guten Job gemacht. Sie ist systemrelevant. Wobei man hinter der Kommunikation ein Fragezeichen setzen könnte. Aber im Gegensatz zu dir bin ich ausdrücklich nicht der Meinung, dass Wissenschaft die Konsequenzen aus ihren Erkenntnisgewinnen durchsetzen müsste. Vielleicht aber Empfehlungen formulieren sollte.

Und ihre Defizite?

GL: Ich fand den Wettbewerb der Experten in Podcasts nicht gut. Auf Teufel komm raus zu kommunizieren, da lässt sich Wissenschaft vor den Karren der PR spannen. Lösungen wurden vorschnell ohne Erkenntnisgrundlage präsentiert.

WG: Noch viel krasser, zunehmend mehr geht es um Verkaufe. So wie die Presse ist Wissenschaft immer mehr kommerziell getrieben. Ihre Öffentlichkeitsarbeit ist PR-geleitet. In der Drittmittelforschung bestimmt die gewinnorientierte Industrie die Forschungsagenda.

Wissenschaftsethik – relevant?

WG: Jahrhundertelang ging’s der Forschung allein um Erkenntnis und wissenschaftliche Wahrheit. Mit der Atombombe verlor sie ihre Unschuld. Eine Antwort darauf ist der Verein Deutscher Wissenschaftler VDW, der für die Verantwortung der Forschung eintritt.

Welche Bedeutung hat die Politik?

GL: Die Wissenschaft hat genug mit sich zu tun. Das Nicht-Wissen ist überall greifbar. Es gibt viele Zweifel, auch bei den therapeutischen Maßnahmen gegenüber dem Corona-Virus. Das ist forschungs-immanent. Für Entscheidungen sehe ich die Politik in der Verantwortung. Also: Schuster bleib bei deinen Leisten. Wissenschaft forscht, Politik lenkt.

WG: Ist Politik wirklich so kompetent? Seit 4000 Jahren kennen wir Seuchen, fast 20 allein in diesem Jahrhundert, immer wieder als Folge des Verzehrs wilder Tiere. Die derzeitige Pandemie war vorausgesagt. Mit der wachsenden Weltbevölkerung setzen wir uns immer größeren Infektionsrisiken aus. Wie die Blinden stolpern wir in den Abgrund. Ist die Wissenschaft nicht viel näher dran an diesem Thema? Müsste sie nicht mehr Richtung vorgeben, als die in Vier-Jahreszyklen gefangene Politik? Auch in der Impfstofffrage?

GL: Die Verteilung eines Covid-19-Impfstoffs, seine Bepreisung, wo er zum Einsatz kommt ist einzig und allein eine politische Frage.

Erwartungen an die Gesellschaft?

GL: Ich frage mich, ob die Bildzeitung stilbildend ist. Dieser Schlagabtausch etwa mit dem Virologen Drosten und dem Blatt, in dem es felsenfest Erwartungen der Gesellschaft vertrat und diese mit klaren Handlungsempfehlungen an die Wissenschaft versah.

WG: Das war wie vor 2000 Jahren, ein öffentliches Spektakel um Brot und Spiele, mit Helden und Antihelden. Dieser Zirkus macht uns am Ende noch orientierungsloser. Die Gesellschaft ist und bleibt unaufgeklärt. Was wir brauchen ist Reform an Haupt und Gliedern, eine neue Aufklärung.

Was bringt die Post-Corona-Zeit?

WG: Katharsis. Die Krise ist die Zeit der Läuterung, Chance, des Neubeginns. Ideen dafür gibt’s genug.

GL: Ich zitiere Churchill: „Never let a good crisis go to waste” (Vergeude nie eine gute Krise).

Weiter so, wie bisher? Oder hinein in die Wende?

WG: Bei allen Katastrophen und Abstürzen, die Evolutionskurve des Homo sapiens zeigt seit 100.000 Jahren stets nach oben.

GL: Das kann ich so nicht sehen. Wir sind bequem geworden auf der Insel der Seligen. Die Geschäfte und Grenzen öffnen sich und alle stürzen sich zurück in den Konsum, in den nächsten Urlaub. Ich wünschte mir Bescheidenheit und die Fähigkeit, auch in Armut üppig leben zu können.

Original Audio-Datei der Lora-Kontroverse bei: „Zwischen Urknall und Apokalypse – Themen die uns alle angehen“

https://zwischen-urknall-und-apokalypse.podigee.io/5-%20wissenschaft_hinter_corona

[ Artikel drucken ]

2 Gedanken zu “Corona-Wissenschaft: Sind wir jetzt wirklich klüger?

  1. Danke Markus für diese aufrüttelnde Atomkraftanalyse. EXTERNALISIERUNG der Kosten–das scheint das Zauberwort der gesamten Wirtschaft (s. dazu auch TELI Sommerbuchtipps ’21: Maja Göpel: Die Welt neu denken). Deine Worte in den Gehörgang der Asiaten, China und Südkorea, aber auch Finnen. Die haben vor Kernkraft keinerlei Skrupel. Wo ist deren Logik, auf die der aufgeklärte Mensch so stolz ist? Wachstum auf Teufel komm raus! Im Äquatorland Kolumbien Kernkraftwerke zu bauen wäre der absolute Vernunfts-GAU. Aber wundern täte mich eine solche Initiative nicht. Auch zum Fracking habe ich hier bisher wenig Kritisches gelesen. Was kann man dagegen tun? Anfangen mit einem ONE MAN SAMPLE: Unser nächstes Projekt auf der Finca ist eine photovoltaische Anlage. Damit wollen wir, besonders auch hier in der ländlichen Umgebung, ein Zeichen setzen. „Yes we can“ und „si se puede“!

  2. Vielen Dank für diese kurzweilige und wirklich anregende Sendung! Mir ist allerdings etwas zu kurz gekommen, über welche Domäne der Wissenschaft ihr da sprecht. Über die universitäre mit ihren fließenden Abhängigkeiten von erst-, zweit- oder Drittmitteln. Über die Art von Wissenschaft, die mehr an der Quantität als der Qualität ihrer Veröffentlichung interessiert ist. An der unternehmerischen, die fast ausschließlich die Gesetzte des Marktes verfolgt. Oder der Wissenschaft in geheimen Forschungseinrichtungen des Militärs, wo alles Mögliche und wahrscheinlich auch Fragwürdige erforscht wird, weil man sonst ins Hintertreffen geraten würde. Die Wissenschaft ist für mich – wie auch die Gesellschaft – keine homogene Masse, sondern eine teilweise stark zersplitterte Gemengelage von unterschiedlichsten Interessen eingebettet in soziale Kontexte. Trotzdem oder gerade deswegen bin ich ein großer Fan von Wissenschaft und ihren Grundlagen, die sich unvoreingenommen ihrem Objektbereich nähert, sich ständig hinterfragt und sich gegen jede Tendenz des Szientismus wehrt. Am Ende habt ihr dann auch den größeren gesellschaftlichen Bezugsrahmen aufgemacht. Dort war für mich ein Aspekt wie eine fraktale Klammer des ganzen Themas. Angesichts der heraufziehenden Probleme in der Energieversorgung Kolumbiens wurde die Atomkraft als mögliche Alternative ins Spiel gebracht. Dieses Thema ist für mich genau der intransparente Schmelztiegel, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse, wirtschaftliche Interessen und politische Kurzsichtigkeit einen undurchschaubaren Pakt schließen. Ich bin großer Fan einer aufgeklärten Gesellschaft, aber überhaupt kein Freund der Idee einer Technokratie, in der die Wissenschaft der Gesellschaft Alternativlosigkeiten vor die Nase setzt. Im Fall der Atomkraft ist die Sache meiner Meinung nach aber noch wesentlich vertrackter, denn die entsprechenden Lobbygruppen haben es durch jahrzehntelange Kampagnien geschafft, ein kontrafaktisches und völlig verzerrtes Bild dieser Energiequelle zu zeichnen. Man muss offensichtlich Falsches nur immer wieder und wieder wiederholen, bis es zur Realität wird. Ich möchte jetzt nicht lamentieren über gesellschaftliche oder persönliche Ängste, über Gefahren oder unsagbares Leid, über die Hinterlassenschaften für zukünftige Generationen. Mir geht es mir hier lediglich um die Frage der quantifizierbaren Kosten. Atomkraft gilt allgemein als eine der günstigen Arten Strom zu gewinnen. Obwohl sie mit Abstand die teuerste ist! Wie schafft man das? Indem man alle großen Kostenblöcke externalisiert: Endlagerung, große Teile des Rückbaus und die Kosten eines möglichen Super-GAUs tragen nicht die Unternehmen, sondern sie werden einfach sozialisiert. Dabei ist die Argumentation beim letzten Punkt besonders dreist. Da man die Risiken statistisch schlecht fassen kann, setzt man die Kosten im Schadensfall theoretisch einfach gleich Null. Niemand darf sich in Deutschland ohne eine Haftpflichtversicherung ans Steuer eines PKWs setzen, aber Atomkraftwerke können ohne adäquate Versicherung betrieben werden. Bei Aufwendungen von 5 Billionen Euro im Fall eines Super-GAUs, sind 2 Milliarden nicht mal der sprichwörtliche Tropfen auf einem heißen Stein. So kann sich eine ganze Branche auf Kosten der Allgemeinheit bereichern und obendrein noch ineffiziente, oligopole Strukturen in der Energiewirtschaft zementieren. Ich hoffe, dass Kolumbien sich nicht unter dem Druck der sich anbahnenden wirtschaftlichen Verwerfungen auf diesen teuren und falschen Pfad macht. Das würde natürlich auch nur unter der staatlichen Verpflichtung gehen, alle angesprochenen, langfristigen Kosten zu tragen. Ansonsten würde kein Unternehmen der Welt auch nur eine Planungsskizze anfertigen lassen. Es rentieren sich sich einfach nicht. Die Kernenergie war von Anfang an nur ein Nebenprodukt für die Herstellung von Atomwaffen. Wenn man so was als Staat haben möchte, geht die Rechnung unter Umständen wieder auf. Vielleicht bin ich nun ein wenig abgedriftet, aber ich wollte darstellen, wie selbstbezüglich diese Bewertungen im Fokus unterschiedlichster Interessen werden können. Und das ist ein Prozess, der auch von wissenschaftlicher Seite keine absoluten Wahrheiten kennt und trotzdem ständig soziale Realitäten schafft. Ich bin letztendlich für die Macht des Arguments und nicht für das Argument der Macht. Und das macht Wissenschaft für mich im Kern – manche würden sagen im Elfenbeinturm – aus!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert