Corona-Wissenschaft: Sind wir jetzt wirklich klüger?

by Wolfgang Goede | 8. Juni 2020 19:43

Lob und Tadel für die Wissenschaft in der Corona-Krise. Darum ging’s beim Bürgerradio Lora (München 92,4) am letzten Donnerstagabend. Die beiden Moderatoren Günter Löffelmann (GL), Biologe, und Wolfgang Chr. Goede (WG), Politologe, debattierten die Frage: „Wissen wir jetzt wirklich mehr“? Hier zehn Kernfragen aus der Kontroverse (paraphrasiert, wörtlich nachzuhören unterm Link unten).

Was ist Wissenschaft?

GL: Sie öffnet uns die Augen. Erklärt uns, was die Welt zusammenhält. Begeistert und ermöglicht Fortschritt. Aber sie kann nicht alle Fragen beantworten. Besonders auch nicht die aktuellen zur Corona-Pandemie.

WG: Sie ist unsere allerbeste Methode der Wahrheitssuche. In der Theorie. In der Praxis hat Wissenschaft erhebliche Defizite. Sie ist zu wenig in Gesellschaft und Politik eingebunden. Kommuniziert ungenügend.

Gibt es dafür aktuelle Corona-Beispiele?

WG: Die Verunsicherung über die Risiken für Kinder (Kawasaki Syndrom und Todesfälle). Ganz aktuell die Frage, wie groß die einzuhaltende soziale Distanz sein muss. Zwei Meter ist ein eher willkürlicher Wert. Neueste Atmosphärenforschung kommt zum Schluss, dass die Aerosolwolke des Menschen und darin befindlichen Viren viel weiter reicht.

GL: Hat die Gesellschaft nicht zu hohe Erwartungen an die Wissenschaft? Auch weil Menschen mit Ungewissheit so schlecht umgehen können?

WG: Vielleicht, aber bessere Kommunikation schüfe mehr Sicherheit. Ein Beispiel sind die um die Welt gegangenen Bilder und Kommentare von US-Präsident Trumps unsäglichen Pressekonferenzen. Dabei stand sein wissenschaftlicher Berater, der angesehene Immunologe Dr. Fauci. Trump hat die Risiken der Pandemie wochenlang heruntergespielt, sogar Bleichmittel als Heilmittel empfohlen. Fauci war zugegen, hat zwar Grimassen geschnitten, später aber nur sehr verhalten dagegen argumentiert. Wo war der Aufstand der internationalen Wissenschaft gegen ihren Missbrauch durch die Politik? Für mich die Kastration der Wissenschaft.

Öffentlichkeit – ausreichend über Corona informiert?

GL: In Deutschland gab es spezielle Talksendungen zu Corona. Die ARD hatte sogar eine tägliche Sondersendung. Ich sehe keine kommunikativen Defizite.

WG: Sind wir dadurch wirklich klüger geworden? Wissen wir, wo das Virus herkam, wo es mit uns hingeht. Allein die verwirrende Fülle der unterschiedlichen Maßnahmen der einzelnen Bundesländer? Insgesamt registriere ich – was die Rechte politisch nutzt – große Desorientierung. Info-Flut, Widersprüche, Verwirrung. Wie während der Tschernobyl-Reaktorschmelze 1986.

Wie erfolgreich ist die Corona-Wissenschaft?

GL: Der Krankheitserreger wurde in Rekordzeit identifiziert, ebenso schnell Tests entwickelt. Mit neuen Impfstrategien stehen wir vor einem Innovationssprung. Ich finde, Wissenschaft hat einen guten Job gemacht. Sie ist systemrelevant. Wobei man hinter der Kommunikation ein Fragezeichen setzen könnte. Aber im Gegensatz zu dir bin ich ausdrücklich nicht der Meinung, dass Wissenschaft die Konsequenzen aus ihren Erkenntnisgewinnen durchsetzen müsste. Vielleicht aber Empfehlungen formulieren sollte.

Und ihre Defizite?

GL: Ich fand den Wettbewerb der Experten in Podcasts nicht gut. Auf Teufel komm raus zu kommunizieren, da lässt sich Wissenschaft vor den Karren der PR spannen. Lösungen wurden vorschnell ohne Erkenntnisgrundlage präsentiert.

WG: Noch viel krasser, zunehmend mehr geht es um Verkaufe. So wie die Presse ist Wissenschaft immer mehr kommerziell getrieben. Ihre Öffentlichkeitsarbeit ist PR-geleitet. In der Drittmittelforschung bestimmt die gewinnorientierte Industrie die Forschungsagenda.

Wissenschaftsethik – relevant?

WG: Jahrhundertelang ging’s der Forschung allein um Erkenntnis und wissenschaftliche Wahrheit. Mit der Atombombe verlor sie ihre Unschuld. Eine Antwort darauf ist der Verein Deutscher Wissenschaftler VDW, der für die Verantwortung der Forschung eintritt.

Welche Bedeutung hat die Politik?

GL: Die Wissenschaft hat genug mit sich zu tun. Das Nicht-Wissen ist überall greifbar. Es gibt viele Zweifel, auch bei den therapeutischen Maßnahmen gegenüber dem Corona-Virus. Das ist forschungs-immanent. Für Entscheidungen sehe ich die Politik in der Verantwortung. Also: Schuster bleib bei deinen Leisten. Wissenschaft forscht, Politik lenkt.

WG: Ist Politik wirklich so kompetent? Seit 4000 Jahren kennen wir Seuchen, fast 20 allein in diesem Jahrhundert, immer wieder als Folge des Verzehrs wilder Tiere. Die derzeitige Pandemie war vorausgesagt. Mit der wachsenden Weltbevölkerung setzen wir uns immer größeren Infektionsrisiken aus. Wie die Blinden stolpern wir in den Abgrund. Ist die Wissenschaft nicht viel näher dran an diesem Thema? Müsste sie nicht mehr Richtung vorgeben, als die in Vier-Jahreszyklen gefangene Politik? Auch in der Impfstofffrage?

GL: Die Verteilung eines Covid-19-Impfstoffs, seine Bepreisung, wo er zum Einsatz kommt ist einzig und allein eine politische Frage.

Erwartungen an die Gesellschaft?

GL: Ich frage mich, ob die Bildzeitung stilbildend ist. Dieser Schlagabtausch etwa mit dem Virologen Drosten und dem Blatt, in dem es felsenfest Erwartungen der Gesellschaft vertrat und diese mit klaren Handlungsempfehlungen an die Wissenschaft versah.

WG: Das war wie vor 2000 Jahren, ein öffentliches Spektakel um Brot und Spiele, mit Helden und Antihelden. Dieser Zirkus macht uns am Ende noch orientierungsloser. Die Gesellschaft ist und bleibt unaufgeklärt. Was wir brauchen ist Reform an Haupt und Gliedern, eine neue Aufklärung.

Was bringt die Post-Corona-Zeit?

WG: Katharsis. Die Krise ist die Zeit der Läuterung, Chance, des Neubeginns. Ideen dafür gibt’s genug.

GL: Ich zitiere Churchill: „Never let a good crisis go to waste” (Vergeude nie eine gute Krise).

Weiter so, wie bisher? Oder hinein in die Wende?

WG: Bei allen Katastrophen und Abstürzen, die Evolutionskurve des Homo sapiens zeigt seit 100.000 Jahren stets nach oben.

GL: Das kann ich so nicht sehen. Wir sind bequem geworden auf der Insel der Seligen. Die Geschäfte und Grenzen öffnen sich und alle stürzen sich zurück in den Konsum, in den nächsten Urlaub. Ich wünschte mir Bescheidenheit und die Fähigkeit, auch in Armut üppig leben zu können.

Original Audio-Datei der Lora-Kontroverse bei: „Zwischen Urknall und Apokalypse – Themen die uns alle angehen“

https://zwischen-urknall-und-apokalypse.podigee.io/5-%20wissenschaft_hinter_corona

Source URL: http://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=6371