Auswege aus Vorurteilen—Verzerrungen—Bias

Erst Corona, jetzt der Ukrainekrieg: Auch Journalist*innen und die Medien erliegen ihren Vorurteilen. Kommunikationswissenschaftlerin Dr. Brigitte Naderer (LMU) erforscht Immunisierungsstrategien: Thema der Radio Lora Wissenschaft Kontrovers Sendung Frühjahr 2022.

Die Expertin im Lora-Studio sensibilisierte für das Thema. Die Forschung kennt mittlerweile 200 verschiedene Vorurteile, englisch oder neudeutsch: Bias. Darunter das Autoritäts-Bias (Personen mit Namen und Macht zu folgen); das Confirmation-Bias (Quellen zu rezipieren, die die eigene Meinung bestätigen); das Nostalgie-Bias (Propagandamittel politisch rechter Parteien nach dem Motto, früher was alles besser).

Wie Ingroup- und Outgroup Studien zeigen: Grundsätzlich steckt der Mensch in einer psychologischen Klemme. Was aus seiner eigenen Peer-Gruppe an Meinungen kommt, dem sind er und sie geneigt, Vertrauen zu schenken. Outgroup-Tendenzen sind eher negativ konnotiert. Beide verstärken die stereotype Wahrnehmung von Welt und Menschenwirken.

Grundsätzlich sind Bias evolutionsgeschichtlich tief verankert. Durch Kategorisierung schützt sich das Gehirn vor Informationsüberflutung, was den Menschen schnell aktionsfähig machte, besonders in historisch früheren Zeiten*.

Gesprächsmoderator Günter Löffelmann fragte nach Gegenmaßnahmen. Empfehlung der Wissenschaftlerin vom traditionsreichen Münchner Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung: Nutzung unterschiedlicher Quellen, Vergleiche, Fakten-Check. Für junge Leute entwickelt Dr. Naderer einen Werkzeugkasten (Tool Kit) gegen Radikalisierung.

Ihre Botschaft: Grundsätzlich sei jeder Mensch selbstverantwortlich für seine Bias und Auseinandersetzung damit. Das beginnt damit, sich selbst kritisch zu fragen: Warum gefällt mir eine bestimmte Information, welche Muster in meinem Nachrichtenverhalten habe ich, woher stammen sie, wo finde ich andere Meinungen, wie ordne ich sie in mein Weltbild ein?

Aber: Neben Negativ-Bias kennt Dr. Naderer auch Positiv-Bias. Etwa Humor- und Picture-Bias, die sich in Unterricht und Pädagogik zur besseren Verankerung von Wissen einsetzen lassen.

Co-Moderatorin Lisa Popp unterstützte den Appell zur aktiven Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen Bias. Für sie ein Schlüsselerlebnis bei Erkenntnis und Umgang damit: Wie eine namhafte angelsächsische Zeitung bei der Berichterstattung über den Prozess gegen O.J. Simpson dessen Gesicht auf einem Foto nachgedunkelt hatte.

In die Debatte trug Wolfgang Goede den „Conflict of Interest“ Passus. Er ist in skandinavischen Ländern seit den Nuller-Jahren üblich. Journalist:innen binden in ihre Artikel ein, welche finanzielle Förderung ihre Recherchen erhielten. Das schafft Transparenz über Entstehung, Motivation, auch Abhängigkeiten.

Die Frage ist aktuell und bisher unbeantwortet: Müssten Forschungsberichte aus der Wissenschaft nicht einen ähnlichen Hinweis tragen? Denn auch Wissenschaftler folgen in ihrer Arbeit ihrem persönlichen Bias, bedienen sich unterschiedlichster Finanzierungen und Sponsoren, sind Angehörige akademischer Interessensgruppen, was alles für Verzerrungen der Ergebnisse sorgt.

Für deren objektive Bewertung müssten die beeinflussenden Faktoren transparent gemacht werden. Immerhin: Das Defizit ist in Akademia angekommen. Hierzu führt seit einigen Jahren die Forschung bereits die Bias-Debatte**. Doch wer oder welche Institution erstellt das Bias des Forschers, wie auch der Lora-Studio-Gast nachfragte?

Hilfreich für beide, Wissenschaft und Medien, aber auch für alle Bürger:innen und Medienkonsument:innen ist das Credo des Schweizer Journalisten Frank A. Meyer. Er ist grundsätzlich an allem interessiert, „was ich nicht selber denke“, und recherchiert so lange, bis die Ergebnisse seinen eigenen Glauben widerlegen.

Diese Methode steht in der Tradition von Karl Popper, seiner Schule des Kritischen Rationalismus und der offenen Gesellschaft. Die gängigen gesellschaftlich-politischen Hypothesen und Verstehensmodelle und damit auch die eigenen in Frage zu stellen ist der Motor der Wissenschaft und des Journalismus, der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und demokratischer Willensbildung. Insofern sind Debatten, inklusive Polarisierung darüber, der Treibstoff dafür.  

*) Siehe hierzu auch Sozialpsychologe Hans-Peter Erb, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, u.a. Stern 5.3.2020, S. 82: „Selbst wenn wir ein Vorurteil ablehnen, denken wir es.“

**) Viele Fehlprognosen über die Auswirkungen von Covid-19 in den USA, etwa Massenobdachlosigkeit und Massenentlassungen, rührten u.a. von „Advocacy Groups“, so das renommierte „Atlantic“ Magazin in seiner Recherche „Why so many COVID predictions were wrong“.

Und hier der Podcast zum Nachhören dieser Lora Sendung.

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Ein Gedanke zu “Auswege aus Vorurteilen—Verzerrungen—Bias

  1. > [Der Conflict of interest] ist
    > in skandinavischen Ländern seit
    > den Nuller-Jahren üblich.

    Zunehmend aber auch in den deutschen Qualitätsmedien…

    > Müssten Forschungsberichte aus
    > der Wissenschaft nicht einen
    > ähnlichen Hinweis tragen?

    Das ist doch inzwischen bei allen wissenschaftlichen Publikationen ganz üblich (steht ganz am Ende eines Artikels, oft sehr klein gedruckt).

    > Er ist grundsätzlich an allem
    > interessiert, „was ich nicht selber
    > denke“, und recherchiert so lange,
    > bis die Ergebnisse seinen eigenen
    > Glauben widerlegen.

    Und was macht er, wenn sein Glaube richtig war und er einfach keine Rechercheergebnisse findet, die seinen eigenen Glauben widerlegen? Soll’s geben.

    In euerm Beitrag wurde nicht „Bias“ von „Noise“ abgegrenzt. Ist auch schwer, wäre aber wichtig. Der zitierte „Atlantic“-Artikel ist ein typisches Beispiel, wie „Bias“ und „Noise“ vermischt werden. Insofern war der Autor Jerusalem Demsas ein Stümper. Viele seiner Beispiele handeln von „Noise“, nicht von „Bias“. Um das zu erkennen, muss man allerdings seine Quellen sehr genau durchlesen und mit anderen Quellen vergleichen.

    Wo ihr jetzt also was zu „Bias“ gemacht habt, hier ein passender Themenvorschlag für die nächste Sendung: „Auswege aus Varianz, aus Noise“, was untrennbar mit „Bias“ verbunden ist.

    Dabei geht es um die Frage der Auswahl von Rechercheergebnissen, je nach Geschmack, Persönlichkeit, Wetter vor dem Redaktionsfenster, das Mittagessen in der Kantine. All das beeinflusst ebenfalls die Auswahl und Interpretation von Quellen und hat nichts mit dem „Bias“ (= systematische Verzerrung) zu tun. Ist eben „Noise“ (= systematische Varianz innerhalb eines Individuums, einer Quellensammlung, einer Datenbasis, oder auch innerhalb von Organisationen, was ebenfalls auf Fehler hinausläuft).

    Es ist nämlich manchmal richtig schwer, „Bias“ von „Noise“ zu unterscheiden.

    Die Welt ist eben nicht Schwarz und Weiß. Zum „Bias“ gehört die „Noise“.

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