Gutes Leben – für Alle!

Auch die längsten Ferien gehen mal zu Ende. An diesem Wochenende nun der Schlusstusch bei den TELI Sommerhits 2022. Im Paket fünf Werke zwischen euro- und egozentrisch, sozio-, bio- und kosmozentrisch. Hiermit wünscht die TELI einen ebenso geistvollen wie nachdenklichen Weg durch den Herbst.

„Gefräßige Ungeheuer, die das unbeherrschte Meer ausgeworfen hat, um uns zu verderben, die sich von Gold, Silber, Perlen ernähren.“ Mit diesen Worten beschwört Xicotencatl, Ratsherr von Tlaxcala, 1519 seine Leute zum Widerstand gegen Cortés, der sich zur Eroberung Mexikos anschickt.

Die Wilden waren die Europäer

Weiße Götter, von wegen. Wilde Barbaren waren die Invasoren aus Europa für die Indigenen. So das Anthropologen-Archäologen-Duo David Graeber und David Wengrow in Anfänge.

Die Ureinwohner der Amerikas lebten in sozial hochentwickelten Gemeinschaften, nicht nur einvernehmlich mit „Mutter Erde“, sondern auch untereinander. Privateigentum und Wettbewerb waren unbekannt. Beschlüsse erfolgten im Konsens. Nicht Ellenbogen, dafür Zungenspitzen, rhetorisches Talent regierten.

Beispiel Teotihuacán. Ausgrabungen lassen auf eine Stadt mit flachen Hierarchien und großem Bürgergeist schließen. Weite Hallen gestatten Volksversammlungen. Eine Kanalisation sorgt für Hygiene, während in Europa Nachttöpfe noch auf Straßen entleert werden.

Diese sozialen und technischen Fortschritte, auch die Kritik der Ur-Amerikaner an den europäischen Hegemonen wurden nach Europa weitererzählt. Die Narrative hielten der höfischen Adelsgesellschaft den Spiegel vor. Damit entfachten die Indigenen den Geist der europäischen Aufklärung und die Abkehr von absolutistischen Herrschaftsformen.

Weizsäcker: Norden verlangt nach Neo-Aufklärung

In Dialektik der Aufklärung hatten Horkheimer und Adorno Europas Heiligen Gral bereits entzaubert. Vor allem nachgebohrt, warum aufklärerische Menschenideale Faschismus und Rassismus nicht beikamen. Das war nicht nur ein Weckruf für die 68er, sondern gilt als Jahrhundertklassiker kritischer Intellektualität.

Sie bricht erneut auf. Ernst Ulrich von Weizsäcker, einst Club of Rome Vize, streitet unentwegt für eine „Neo-Aufklärung“. Eine, die das Wachstumsdogma, Konsumismus und Extraktivismus, Natursterben und Klimakatastrophe an die Leine legt.

Praxis-Tipps liefert Bayerns Katholische Landjugend. Ihren aktuellen Werkbrief widmet sie der indigenen Lebensphilosophie Gut(es) Leben (Buen Vivir), der Kunst und Weisheit, in Harmonie mit sich und der Schöpfung zu leben. Anleitungen für eine biozentrische Lebensweise würzen die Schrift. Mit inhaltsreichem Rekurs auf einen der aktuellen Buen-Vivir-Denker und Diskurs-Leitenden, Alberto Acosta, Ekuador, dessen deutsche Übersetzung mit dem Titel Buen Vivir. Das Wissen der Anden für eine Welt jenseits des Wachstums bereits vor zehn Jahren bei oekom erschienen ist.

Acosta: Plurikulturelle Kosmosvision

Acosta gelang es, „sumak kawsay“, in Quechua „Gutes Leben“, das friedvolle Zusammenleben mit der Natur, in der Verfassung seines Landes zu verankern. Seine Gedankengerüst lebt von der Pluralität, von „pluri“, ein Präfix, das sich mit vielen Lebensbereichen kombinieren lässt, wie pluri-national, pluri-kulturell, und Acostas Konzept von einer „Kosmovision“ ausdrückt, in der Mensch und Natur in „Mutter Erde/Pachamama“ Wiedervereinigung feiern. Damit könnte die seit Jahren debattierte Transformation in der Wirtschaft und Gesellschaft, national und global, Vorschub gewinnen.

Gutes Leben sehen die Autoren Nilda Inkermann und Jannis Eicker (Uni Kassel) als „Herausforderung der politischen Bildung“ in Journal für politische Bildung, 4|21 (S. 32ff). In ihrer hegemonietheoretischen Perspektive ist die kulturelle Dominanz des Globalen Nordens in dessen Bildungssystem tief verankert. Was sich u.v.a. auch in den Begrifflichkeiten von Entwicklung und Unterentwicklung niederschlägt (mit einer so unscharf gewordenen Grenzlinie, dass unlängst der Politik- und Konfliktforscher Stefan Peters (Professur Friedensforschung Uni Gießen, Direktor CAPAZ Bogota) bei einer öffentlichen Veranstaltung einräumte, dass er selbst kaum mehr wisse, was Entwicklung bedeuten soll.

Im Sinne der Kasseler Autoren beansprucht und besetzt der Norden eine Hegemonie, die auf Ausbeutung von Natur und Menschen beruht, wobei „der Globale Norden überproportional auf Arbeit und Ressourcen im Globalen Süden zugreift …“. „Gutes Leben“ im Norden ist – im scharfen Gegensatz zur indigenen Definition – für Viele „höher, schneller, weiter, mehr“. Es ist die Bildung, die Menschen zu diesem Wettkampf erzieht: Leistung, Konkurrenz, Konformismus.

Natur- und sozialwissenschaftliche Weltformel

Alternative dazu sind: Commoning, Erhaltung von Gemeingütern; Demokratisierung, Einbindung aller Betroffenen; ReProduktion, Aufhebung der Trennung von produktiver und reproduktiver Arbeit; Dependenz, Orientierung an Abhängigkeit von Biosphäre; Suffizienz, genug für alle. Diese Werte sind der Gegenentwurf zum bestehenden Wertekanon und sollten in das Bildungssystem, Lehr- und Lerninhalte einfließen, damit die gängigen Annahmen hinterfragen, „Kopf, Herz, Hände“ einbeziehen, experimentierend und reflektierend mit „Verlernen von als normal erachteten Verhaltens- und Denkweisen“. Ziel: „Gutes Leben für alle“.

Was heißt das für die Wissenschaft des Globalen Nordens? Die einzelnen Disziplinen müssten wieder das große Ganze in Augenschein nehmen (Alexander von Humboldt galt als einer der letzten Universalgelehrten, in dessen Forschung die gesamte Natur noch zusammenfloss.) Mit der neuen Transdisziplinarität hat die Forschung bereits diesen Weg eingeschlagen, etwa dass Ingenieure im Tandem auch Philosophie studieren und damit nicht zu den berüchtigten „Fachidioten“ ausgebildet werden, deren Eindimensionalität Max Frisch in „Homo faber“ ein erschreckendes Denkmal setzte.

Denkbar wäre im Sinne von Acosta eine Pluri-Disziplinarität, in der nicht nur Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch die Naturwissenschaften zu gemeinsamen holistischen Positionen zusammenfließen. Das hatte Einstein für Relativitäts- und Quantentheorie bereits angedacht, bewegt heute immer noch die Geister mit Großer Vereinigungstheorie (Grand Unified Theory GUT) und „Theory of Everything“ (ToE) oder auch ganz einfach Weltformel. Acosta und die indigene Philosophie der Amerikas könnten den Anstoß zu einer Weiterführung geben.

Organisch-ganzheitlich vs. „Natur foltern“

Das alles umfasst auch die Gedankenwelt des deutschen Wissenschaftsphilosophen Peter Finke. In Mut zum Gaiazän rechnet der Bielefelder mit dem Anthropozän ab, dem aus Aufklärung, Wissenschaft, Industrialisierung geborenen menschengetriebenen Erdzeitalter – mit Weizsäckers zitierten Nebenwirkungen. Gaia ist der griechische Terminus für eine organisch-ganzheitliche Erde. Ihre DNA arbeitet zyklisch, nicht linear.

Verantwortlich für neuzeitliche Irrwege machen beide, Acosta wie Finke, Lord Bacon, im 16. Jahrhundert Wegbereiter analytisch-rationalistischen Denkens, damit Pate der Aufklärung und modernen Wissenschaft. Sie „soll die Natur foltern, so wie die Heilige Inquisition ihre Opfer, um ihr die letzten Geheimnisse zu entreißen“, so Bacons Marschorder.

Alberto Acosta: Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. oekom München 2012

Peter Finke: Mut zum Gaiazän. Das Anthropozän hat versagt. oekom München 2022

David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2022

Journal für Politische Bildung. Thema: Globale Krisen. 4/2021. Wochenschau Verlag Frankfurt/M. 2021

Misereor, KLJB: Gut(es) Leben. Impulse aus Lateinamerika und Bayern. München 2021

Diese Gedanken und die genannten Forschungswerke führt das Arbeitspapier Falling WALLS, Opusculum 164 zusammen.


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