by Hanns-J. Neubert | 22. August 2009 16:43
Während alle anderen noch nach den richtigen Wegen suchen, hat sich die deutsche Wissenschaftsdebatte 2009 einfach auf den Weg gemacht. Sie brauchte keine Konferenzen, keine Positionspapiere und keine „Roadmaps“, Dokumente, die erst einmal sorgfältig alle Schritte einer Aktion theoretisch definieren.
Denn es geht inzwischen nicht mehr nur darum, Wissenschaft verständlich zu machen, sondern die Bürger zu beteiligen. Das hat sich – zumindest im übrigen Europa außerhalb Deutschlands – bereits herumgesprochen. Besonders hervorgetan hat sich dabei Portugal, als es in der zweiten Jahreshälfte 2007 die europäische Präsidentschaft inne hatte.
„Wir müssen den gesellschaftlichen Vertrag für die Wissenschaft erneuern“, war die damalige Forderung Portugals in der Broschüre „Öffentliches Engagement in der Wissenschaft“ (Public Engagement in Science). Es gebe genug Hinweise darauf, dass gute Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu neuen Formen sozialer Intelligenz führen. Damit seien neue Forschungs- und Entwicklungsrichtungen zum Nutzen aller möglich.
WISSENSCHAFT WÜNSCHT SICH INSPIRATIONEN AUS DER GESELLSCHAFT
In eine ähnliche Richtung geht das aktuelle Bemühen der Europäischen Forschungsstiftung ESF um eine neue Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.
Während eines Arbeitstreffens Ende Juni 2009 in Paris forderte auch sie, die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu erneuern, weil es zunehmend mehr beunruhigende Zeichen gebe, dass nicht nur die Gesellschaft das Interesse an der Wissenschaft verliert, sondern dass auch die Wissenschaft nicht genug Inspirationen aus der Gesellschaft bekommt.
Das Treffen sollte der Beginn für die Ausarbeitung eines Leitplanes sein, auf Grund dessen dann zusammen mit den Mitgliedern der ESF – das sind die nationalen Forschungsförderorganisationen – eine Strategie erarbeitet werden soll, die dann zur Erneuerung der Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beiträgt („Roadmapping Science in Society“) – allerdings nicht ohne im Vorfeld langjährige (sozial-) wissenschaftliche Untersuchungen durchführen zu wollen und die vorhandenen Instrumente der Wissenschaftskommunikation erst einmal zu analysieren.
WISSENSCHAFTSKOMMUNIKATION ERSETZT KEINE DEBATTE
Die bisherigen Bemühungen von Wissenschaft und Technik, der Bevölkerung näher zu kommen, setzten immer erst dann ein, wenn Entscheidungen über neue Forschungsrichtungen oder Projekte bereits gefallen waren. Dann blieben nur noch die Instrumente der (Wissenschafts-) PR, die oft in der Tat dann auch Werbeagenturen überlassen wurden.
Sie beschränken sich darauf, der Öffentlichkeit die Forschungen zu erklären, den Nutzen zu erläutern, oder auch mögliche Risiken der Projekte anzusprechen, um Bedenken frühzeitig zu zerstreuen. Während ein Forschungsprojekt läuft, meist auch über die Ergebnisse am Ende, hüllt sich die Wissenschaft oft in Schweigen. Insbesondere dann, wenn Probleme auftreten, verschließen sich die Pressestellen plötzlich, wie nach dem Ausfall des Hadron-Colliders im CERN, nachdem er gerade angelaufen war.
Mit Spaßaktionen, wie Tagen der offenen Türen in Forschungseinrichtungen, Nächten der Wissenschaft, Schiffen und Zügen der Wissenschaft oder Mitmach-Ausstellungen versuchte die Wissenschaft in den vergangenen Jahren verstärkt Jugendliche für Forschung und Technik zu interessieren. Ob dabei mehr heraus kam, als „Spaß haben und vergessen“, wie auf einer Kirmes, ist fraglich. Denn die Entscheidung für eine Forscherkarriere treffen Jugendliche auf Grund ganz anderer Kriterien, nämlich wie attraktiv ein Beruf ist, wie weit man sich darin selbst verwirklichen kann, welche Karriereaussichten es gibt, wie zukunftssicher eine Position ist und wievielt Geld man dabei verdienen kann.
EU-KOMMISSION VORREITER BEI ÖFFENTLICHEN ANHÖRUNGEN
Die EU-Kommission ist da schon sehr viel weiter. Bereits seit Jahren gibt es das – leider relativ unbekannte – Instrument der öffentlichen Anhörungen. Erst in jüngster Zeit hat die Kommission diese Mitwirkungsmöglichkeit für ganz normale europäische Bürger in einer eigenen Internet-Seite zusammen gefasst: „Ihre Stimme in Europa“. Hier können Bürger, Nichtregierungsorganisationen, aber natürlich auch Interessengruppen ihre Meinung zu geplanten Politikvorhaben äußern, auch solchen der Forschungspolitik. Grundlage ist üblicherweise ein sogenanntes „Grünbuch“, in dem die Kommission erst einmal ihre eigenen Ideen vorstellt. Die dazu geäußerten Meinungen aus der Öffentlichkeit werden sorgfältig analysiert, zusammen gefasst und veröffentlicht. Sie fließen dann konkret in die weiteren politischen Diskussionen ein. Manchmal wird so ein Vorschlag daraufhin auch einfach wieder zurück genommen.
Bereits 2007, damals gab es die Webseite „Ihre Stimme in Europa“ noch nicht, führte die EU-Kommission eine öffentliche Anhörung zu neuen Perspektiven für eine europäische Forschungslandschaft durch: „The European Research Area – New Perspectives: Public Consultation Results“.
Zwar wurden nur 685 Antworten in den Online-Fragebogen eingetragen, 145 Beiträge kamen per Briefpost oder E-Mail, aber es war ein Anfang. Mit 70 Prozent beteiligten sich vor allem einzelne Bürger an dieser Anhörung. Viele ihrer Ideen gehen in der Tat jetzt in politische Richtlinien ein, wie beispielsweise die Forderung nach freiem und kostenlosem Zugang zu begutachteten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die mit öffentlichen Fördergeldern zustande kamen.
Genau so ein Instrument der öffentlichen Mitwirkung an den Zielen von Forschung, Wissenschaft und Technik fehlt in Deutschland. Genau dies will die Wissenschaftsdebatte 2009 initiieren.
Die Freiheit der Forschung ist damit nicht bedroht. Im Gegenteil: Die Freiheitsgrade wachsen mit dem stärkeren Rückhalt in der Bevölkerung. Aber sie braucht dennoch Regeln und sollte den Interessen ihrer Förderer nicht nur folgen, sondern zu ihrem eigenen Nutzen auch für sie offen sein. Grenzenlos – bis hin zu Menschenversuchen – ist Wissenschaft nur in autoritären Systemen gewesen, wie im Dritten Reich.
BÜRGER MITUNTER DIE BESSEREN EXPERTEN
Hinweise auf viele gefährliche Entwicklungen, die die Experten in den Elfenbeintürmen der Wissenschaft für undenkbar hielten, sind in der Vergangenheit von Bürgern und Nichtregierungsorganisationen gekommen. Sie warnten beispielsweise viel früher als Forscher vor den Gefahren von Asbest, radioaktiver Strahlung und BSE. Das belegt die Studie der Europäischen Umweltagentur „Late lessons from early warnings“, die bereits 2002 erschien. In ihr werden unzählige Beispiele dokumentiert, bei denen die Öffentlichkeit auf mögliche Gefahren hinwies, die von den Wissenschaftlern oft viel zu lange als „anekdotisches Ereignis“ hingestellt wurden.
„…die Menschen behaupten nicht, dass sie alles wissen. Sie behaupten eher, dass ihr kleines Stückchen an Erfahrungswissen immerhin zu einem weiteren Forschungsbedarf führen sollte,“ schrieb die portugiesische EU-Präsidentschaft 2007 in ihren Vorschlagskatalog, mit dem sie eine Debattierkultur in Fragen von Wissenschaft, Forschung und Entwicklung voran bringen wollte.
WISSENSCHAFTDEBATTE 2009 HANDELT
In den vergangenen Jahren sind viele gute Ideen aufgeblüht, die das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu erneuern suchen. Doch fast alle sind in der Theorie, in der Konzeption von Roadmaps oder (sozial-) wissenschaftlichen Forschungen stecken geblieben.
So auch leider das viel versprechende EU-Projekt CIPAST (Bürgerpartizipation in Wissenschaft und Technologie, Citizen Participation in Science and Technology), das 2008 nach dreijähriger Förderungszeit eingestellt wurde. Was übrig blieb sind ein paar theoretisch erarbeitete, in kleinem Kreis getestete Handreichungen für Verantwortliche in der Wissenschaftskommunikation, und ein paar Poster und Präsentationen von den Projektkongressen.
Die Wissenschaftsdebatte 2009 packt jetzt „Butter bei die Fische“, wie die Menschen im Norden sagen.
Die Bürger verlieren den Anschluss an die Wissenschaft, was sicherlich auch ein Problem der Bildung ist, die in Deutschland ebenfalls im Argen liegt. Aber sie wissen auch nicht mehr, was, warum und wozu erforscht wird.
Der Wissenschaft dagegen fehlen die Inspirationen, wie die ESF und andere Forschungsorganisationen in Europa erkennen.
Die Wissenschaftsdebatte 2009 ist der Platz, wo sich Forscher, Techniker und Bürger direkt treffen und ihre Ideen und Vorstellungen frei und auch kritisch austauschen. Hier können Forschungspolitiker erfahren, was Wissenschaftler und Bürger wirklich umtreibt.
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