Wissenschaftssystem und Wissenstransfer

by Manfred Ronzheimer | 1. August 2013 22:58

Wie sich der Wissenschaftsrat in seinem jüngsten Gutachten zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft äußert

Gruppenbild Wissenschaftsrat Braunschweig

Der Wissenschaftsrat bei seinen Sommersitzungen 9.-12. Juli 2013 in Braunschweig. Foto von http://www.wissenschaftsrat.de

Der Wissenschaftsrat hat auf seinen Sommersitzungen in der zweiten Juliwoche 2013 in Braunschweig das Papier „Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems“ beschlossen. Vorangegangen war eine intensive, mehrmonatige Beratung im internen Kreis, die nur einmal durch unerwünschte Öffentlichkeit gestört wurde, als eine frühe Fassung des Papiers bekannt wurde.

Der Schwerpunkt der Empfehlungen (Die Empfehlungen zum Download, PDF) liegt auf der Verbesserung des Hochschulsektors und damit der akademischen Lehre. Hierzu werden zwei neue Instrumente vorgeschlagen: Liebig-Zentren und Merian-Professuren, deren Finanzierung überwiegend vom Bund kommen soll. Das macht eine Grundgesetzänderung nötig. Die auslaufenden „Pakte“ (für die außeruniversitäre Forschung, für die Lehre, für die Exzellenz-Initiative) – über die in den letzten Jahren der Bund das „Kooperationsverbot“ umgehen konnte – sollen in einem „Zukunftspakt“ zusammengefasst und fortgesetzt werden. Hier äußert sich Ratsvorsitzender Marquardt in einem Interview mit mir zu Zielrichtung und Hauptpunkten der Empfehlungen.

In den Bewertungen nach Veröffentlichung der Empfehlungen wird bemängelt, dass sich der Wissenschaftsrat zu sehr auf die Lösungen finanzieller Probleme des Wissenschaftssystems in den nächsten zehn Jahren kapriziert, aber zu wenig über die langfristige Entwicklung reflektiert habe. Auch Sprecher der Nachhaltigen Wissenschaft äußerten sich enttäuscht.

Wissenschaft hat vier Leistungsbereiche

Für das Verständnis der Stellungnahme des Wissenschaftsrates ist die Sichtweise wichtig, dass er das Wissenschaftssystem in vier Leistungsbereiche differenziert. Diese sind: Forschung, Lehre, Transfer und Infrastruktur. Alle Bereiche gehören zusammen, können aber bei Reformaufgaben zeitlich gedehnt werden. Während für die Forschung über die Exzellenzinitiative schon viel in den letzten Jahren geleistet wurde, stehen nun zentrale Verbesserungen in der Lehre an. Hier sieht der Wissenschaftsrat auch den Hauptakzent seines Papiers. Die beiden übrigen Leistungsbereiche Transfer und Infrastruktur segeln nur am Rande mit (was in Ordnung ist, denn sie haben im faktischen Geschäft auch eine viel geringere Größenordnung als Forschung und Lehre); für sie gibt es auch keine dezidierten Ausarbeitungen im Papier.

Wolfgang Marquardt, Vorsitzender des Wissenschaftsrates

Wolfgang Marquardt, Vorsitzender des Wissenschaftsrates. Foto von http://www.lemmens-online.net

Gerade deshalb soll der eine Leistungsbereich „Transfer“ an dieser Stelle besonders herausgegriffen werden, nicht zuletzt auch als Merkposten für künftige Stellungnahmen.

Wichtig: der Wissenschaftsrat spricht von einem Wissenstransfer in zwei Richtungen: in die Wirtschaft und in die Gesellschaft. Dabei ist zu beachten, dass die Instrumente für den Transfer in die Wirtschaft (Technologietransfer) relativ gut entwickelt sind, aber natürlich weiter verbessert werden können. Der Transfer in die Gesellschaft – und vice versa: von der Gesellschaft in die Wissenschaft – ist neu und braucht einen grundlegenden Schub.

Was ist Transfer?

Auf Seite 25 seiner Empfehlungen gibt der Wissenschaftsrat folgende Definition des Leistungsbereichs „Transfer“:

„Transfer bezieht sich nicht allein auf den technologischen Transfer, in dem Deutschland aufgrund der engen Beziehungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft im internationalen Vergleich gut aufgestellt ist. Die Leistungsdimension Transfer bezieht in einem breiteren Sinne die dialogische Vermittlung und Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus allen Wissenschaftsbereichen in Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik ein – von der Translation in der Medizin über den technologischen Transfer, die Anregung von öffentlichen Debatten und gezielte Politikberatung oder vergleichbare Beratungsaktivitäten bis hin zur öffentlichen Vermittlung von Erkenntnissen und Erkenntnisprozessen, etwa in Museen und Ausstellungen.“

Als zentrale Akteure des Transfers werden die Hochschulen ausgemacht:

„Hochschulen sind der gesellschaftliche Ort, an dem in einem breiten disziplinären Spektrum Bildung und Ausbildung mit Forschung, Wissenstransfer und kultureller Selbstwahrnehmung verschränkt werden. Hochschulen entfalten nicht zuletzt über die akademische Lehre eine direkte Wirkung in die Gesellschaft.“ (S 28)

Förderprogramme für den Transfer

Auf Seite 60 wird sich zur Finanzierung des Transfers geäußert. Allerdings werden hier nur Vorstellungen zum Transfer in die Wirtschaft entwickelt. Hier sollen die Liebig-Zentren auch als zentrale Schnittstellen fungieren. Zum gesellschaftsbezogenen Transfer fehlen entsprechende Aussagen:

„Zur Stärkung der Leistungsdimension Transfer stehen zahlreiche Förderprogramme der öffentlichen Hand ebenso wie Kooperationsmöglichkeiten mit der Wirtschaft jenseits der Grundfinanzierung offen. Der Wissenschaftsrat empfiehlt den Hochschulen, diese Förderprogramme stärker strategisch mit Blick auf die gewählte Profilierungsstrategie zu nutzen. Den Zuwendungsgebern empfiehlt er, ihre Programme zur Förderung von Innovations- und Transferleistungen so anzupassen, dass sie die Hochschulen in ihrer Profilbildung noch besser unterstützen können. Auch für den Aufbau von Forschungsinfrastrukturen sind wettbewerbliche Förderinstrumente von Bund, Ländern und der EU bereits verfügbar.“ (S.60)

Der wirtschaftsbezogene Transfer wird später an anderer Stelle erneut angesprochen. Hier möchte der Wissenschaftsrat die DFG zu mehr Aktivität anspornen:

„Die bewährten Transfermechanismen – Kooperationsprojekt, Patentierung/Lizensierung und Ausgründung – werden auch künftig eine wichtige Rolle im Innovationsgeschehen spielen und sollten weiter gefördert werden. Der Wissenschaftsrat empfiehlt in diesem Zusammenhang der DFG in Zusammenarbeit mit Partnern etwa anderer Förderorganisationen oder der Wirtschaftsverbände die Förderung solcher Projekte an wissenschaftlichen Einrichtungen zu verstärken, die auf einen Transfer der in vorausgehenden DFG-Projekten erarbeiteten Forschungsergebnisse in Wirtschaft und Gesellschaft abzielen. Die Finanzierung solcher Kooperationsprojekte sollte durch die externen Partner sichergestellt werden. Ausgangspunkt können die Erfahrungen der DFG mit dem Instrument der Transferprojekte sein. Bund und Länder werden gebeten, ihre Förderprogramme daraufhin zu überprüfen, ob sie effektiv zur Realisierung geschlossener Innovationsketten beitragen.“ (S. 97)

„Große gesellschaftliche Herausforderungen“

Die gesellschaftsbezogene Relevanz von Wissenschaft schneidet das Papier nur in seinem Einleitungsteil an. Hier wird auf die Rolle der „Grand Challenges“ eingegangen. Im späteren Maßnahmen-Teil des Papiers wird diese Themen-Orientierung nicht wieder aufgegriffen; dort kommen lediglich Fragen der Wissenschaftsstruktur zur Sprache.

Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems 2013

Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems 2013

„Hoch komplexe, die gesamte Gesellschaft drängend betreffende Fragen werden oft unter dem Begriff der „Großen gesellschaftlichen Herausforderung“ gebündelt. Dabei ist die gesellschaftlich und politisch vermittelte Einsicht entscheidend, diesen Herausforderungen auf der Grundlage ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung nur durch eine umfassende zielgerichtete Veränderung begegnen zu können, deren Reichweite weite Teile der Gesellschaft betrifft. Diese Qualität unterscheidet eine große gesellschaftliche Herausforderung von anderen umfangreichen wissenschaftlichen Problemstellungen.

Das Wissenschaftssystem muss auf die gesellschaftlichen Herausforderungen in besonderer Weise reagieren können: Zunächst muss es einen fundierten Beitrag zur Problemdefinition leisten, das heißt, die Reichweite und Differenziertheit der damit verbundenen Anforderungen an die (politische) Handlungs- und Entscheidungsebene analytisch so umfassend und zeitnah wie möglich darstellen können. Es muss dann Lösungsvorschläge zur Bewältigung dieser Herausforderungen erarbeiten können, die den Standards einer wissenschaftsgeleiteten Problemlösung entsprechen. Dazu muss es in der Lage sein, flexibel und kurzfristig Forschungsleistung und Wissenstransfer zu erbringen, wie auch langfristig und kontinuierlich Themen im Sinne der Vorsorgeforschung zu bearbeiten. Nur dann kann wissenschaftliche Erkenntnis als Grundlage für die politische Entscheidungsfindung und gesellschaftliche Verständigung dienen, die Voraussetzung für die erforderlichen Transformationsprozesse sind.“ (S 20).

Papier mit Leerstellen

Fazit: Zu den Fragen des Transfers zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sowie den Forschungsthemen (und auch Ausbildung!) zu den „Großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ macht das Grundsatz-Papier des Wissenschaftsrates nur ganz minimale Aussagen. Über diese Leer-Stelle darf man enttäuscht sein. Zugleich ergibt daraus aber auch die Chance für andere, eigene Vorschläge zu entwickeln und sie im Rahmen der Wissenschaftsdebatte einzubringen und zu diskutieren.

Source URL: https://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=3613