by Manfred Ronzheimer | 28. Juli 2013 13:03
„Edward Snowden ist ein Geschenk des Himmels“, sagt Frank Schirrmacher in der Berliner Universität der Künste. Die hatte den Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Abschlussvortrag ihrer Studium-Generale-Reihe (1) eingeladen, und der Vortragsraum im Konzerthaus der Universität ist überfüllt.
Eigentlich sollte Schirrmacher über den „Geist des Kapitalismus“ sprechen, und zwar jener neuen „Informationsökonomie“, deren historische Genese und düstere Perspektive er in seinem Anfang des Jahres erschienenen Buch „Ego, das Spiel des Lebens“ dargestellt hatte. Inzwischen hat die Debatte über die gesellschaftlichen Folgen der Informationstechnik mit den Enthüllungen des amerikanischen NSA-Dissidenten Snowden eine neue Dimension erreicht: Es geht um die Abwehr des digitalen Überwachungsstaates und die Verteidigung bürgerlicher Grundrechte.
Ein riesiges Thema, ein neuer „Kalter Krieg“, dessen Ausgang ungewiss ist. Schirrmachers frohe Botschaft, dem Ort des Auftritts geschuldet: die Künste können uns retten. Ihr Kreativitätspotenzial, ihre Unberechenbarkeit sind das „Gegengift“, sind Sand im Getriebe der Informationsökonomie.
Schirrmachers Ausgangsthese beruht auf einem der wirkungsreichsten Transferprozesse zwischen Wissenschaft und Wirtschaft in der Geschichte der Menschheit. Unmittelbar nach dem größten Betriebsunfall der Naturwissenschaften – der Entdeckung der Kernspaltung und ihre kriegstechnische Nutzbarmachung in Gestalt der Bombe – wurde wichtige Teile dieses Wissenschaftspotenzials via Informationstechnik und Mathematik für den „Kalten Krieg“ nutzbar gemacht. Es galt, nicht nur die Flugbahnen der atomaren Interkontinental-Raketen ballistisch zu berechnen, sondern den Gegner insgesamt, sein Verhalten, zu simulieren. Sein schändliches Tun im Computer vorauszuahnen. Dieses Mißtrauen gegenüber dem anderen ist bis heute ein zentraler Wachstumsstrang der Informatik: die Vorhersage des menschlichen Handelns durch Nutzung seiner Daten.
Der zweite epochale Schritt ist laut Schirrmacher die Verknüpfung der Informationstechnik und dem Quantensprung des Internet mit der neoliberal gewendeten Ökonomie (in Abkehr von der sozialen Marktwirtschaft). Dies machte an den Börsen den Hochfrequenzhandel möglich und dem Aufbau von irrsinnigen Finanzmärkten, die sich zum Schluß über das Muster der Bankenkrise kompletter nationaler Volkswirtschaften bemächtigen und diese qua Computer-Logarithmen steuern. Die Politik ist nur noch passiv Getriebener. Zweiter Auswuchs ist das Entstehen gigantischer digitaler Daten-Imperien wie Google, Facebook und Amazon, denen es gelang, mit dem Internet erfolgreiche Geschäftsmodelle zu realisieren. Die Schattenseiten: Hoher Grad an Kundenmanipulation, rechtsfreie Räume (Datenschutz, Steuerhinterziehung) und – durch Snowden jetzt thematisiert – die Zusammenarbeit mit dem US-Geheimdienstkomplex.
In der Summe, und das ist die Botschaft von Schirrmachers analogem Digital-Buch, sind alle Akteure dabei, neben dem realen Ich des Menschen ein „digitales Ich“, eine zweite virtuelle Personalität zu schaffen, die in den neuen digitalen Infrastrukturen von Wirtschaft, Staat und Social Networks der Gesellschaft dann eine höhere Authentizität besitzt als das Ursprungs-Ich. Dem realen Menschen misstrauen die IT-Systeme, seinem digitalen Ich nicht, denn dort ist er von vorne bis hinten durchleuchtet.
Das sei kein „1984“ von George Orwell auf modern, sagt Schirrmacher vor den Kunststudenten. Die heutige Bog Brother-Welt ist keine digitale Diktatur, sondern funktioniert dank Freiwilligkeit und mit positiven Anreizen, Incentives. Keiner braucht sein tägliches Gesundheitsverhalten bei der zentralen Volksgesundheitsbehörde zu melden. Aber wer so nett ist, seine elektrische Zahnbürste auch ans Internet anzuschließen, damit der Hersteller erfährt, wie intensiv sie genutzt wird und auch die Zahnärztekammer und auch die Krankenversicherung etc, der bekommt ein kleines Gimmick.
Das ist auch der nächste Schritt, ergänzt Schirrmacher, der nicht erst bevorsteht, sondern jetzt schon stattfindet: Das Internet der Dinge. Die Gegenstände – jeder mit einer eigenen IP-Adresse – kommunizieren selbständig, ohne Zwischenschaltung des Menschen. Bzw. der Mensch wird in die Maschine hineingeholt. Das Auto ist derzeit ein prominenter Ort derartiger Integrationen: Autonomes Fahren, das Fahrerlose Auto kann die Vision des „unfallfreien Verkehrs“ Realität werden lassen. Aber nur unter Ausschaltung des Gefährdungspotenzials „Mensch“.
Auch der heutige Aufsichtsrats-Chef von Google, Eric Schmidt, hat ein Buch geschrieben. „The New Digital Age“. Es ist die Kontradiktion zu Schirrmachers Warnruf: Alles wird gut. Im Frühjahr war Schmidt auf Werbereise in Deutschland für die deutsche Ausgabe (der Titel mit arg gekünstelter Anlehnung an den wissenschaftshistorischen Bestseller „Vermessung der Welt“).
Es handele sich um den großen Entwurf einer „neuen digitalen Planwirtschaft“. Schirrmacher fragt: „Warum lässt die Politik die Informationsmonopolisten so ungehindert gewähren?“ (2). Der FAZ-Journalist berichtet in der UdK, wie er im vorigen Jahr eine Diskussion mit Schmidt in der Berliner American Academy zum nämlichen Thema geleitet habe. Das digitale Ich dominiert jetzt das reale Ich, war die Botschaft. „Nach der Rede meldeten sich einige der amerikanischen Fellows zu Wort. „We are horrified“ (“Wir sind entsetzt“), sagten sie.“ Schmidt seinerseits war überrascht. Von NSA, PRISM, Snowdon war da in der Öffentlichkeit noch nichts bekannt.
Wie umgehen mit diesem Datenskandal, den einige bereits als das „Tschernobyl“ des Informations-Zeitalters gewichten? Schirrmacher stellt „Transparenz“ an die erste Stelle. Aufklärung dessen, was geschehen ist und künftige Sichtbarmachung dessen, was geschieht. Das könnte eine große Zeit für unabhängigen Journalismus werden. So kamen auch die Snowden-Berichte in die Welt.
„Dabei ist Journalismus sehr wichtig, um diese Dinge auch öffentlich zu machen, also Fälle, in denen Menschen Nachteile erwachsen, wenn sie durchsichtig werden. Diese Geschichten müssen erzählt werden“, sagt Schirrmacher an anderer Stelle. (3)
Zweites Petitum Schirrmachers ist das Recht, die Betonung er Rechtstaatlichkeit und der ihr zugrunde liegenden Werte. „Was NSA macht, ist ein Angriff auf die Menschenwürde. Denn sie stellen ALLE unter Verdacht, nicht nur einzelne Verdächtige“, betont der Frankfurter Journalist. Mit dieser „Verdachtsökonomie“ gehe der Verlust an persönlicher Freiheit einher. „Wir sind jetzt in einer Übergangszeit“, sagt Schirrmacher. Snowden markiere nicht das Ende einer verheerenden Entwicklung, sondern einen Wendepunkt. In diesem Sinne komme er zum richtigen Zeitpunkt, ein „Geschenk des Himmels“.
Jetzt sei die Zeit gekommen, dem Informationskapitalismus etwas entgegenzusetzen. Dessen Ausgangspunkt sei das rationale Selbstinteresse und nicht das Interesse an der Gemeinschaft.
„Wir brauchen Menschen und Einrichtungen, die dagegen angehen“. Dazu gehöre die Kunst, weil sie unberechenbar sei. „Sie ist ein Gegen-Narrativ.“
Schirrmacher erwähnt das MPI für Bildungsforschung, dessen Professor Gigerenzer er sehr schätzt. Aus seinen Forschungen weiß er um Potenziale des Menschen, die niemals maschinenkonform werden können. „Unberechenbarkeit“ nennt er es. Dazu zählt die Rolle der Intuition.
Der Mann aus Mainhattan begeistert sich für Spree-Athen, der „Arm, aber sexy“-Hauptstadt, die sich neuerdings mit seiner hippen Gründerszene zu Europas Silicon Valley aufschwingen will. Lebendige Kreativszene und starke Humanwissenschaften – „Berlin ist der Ort, wo alles dafür vorhanden ist“, sagt Schirrmacher „Hier ist das Gegengift“. Die Barrikaden gegen den Informationskapitalismus können eigentlich nur hier gebaut werden. „Es geht darum, ein Gegenprogramm zu entwickeln. Ein Programm zum eigenen Denken“.
In Skandinavien entsteht jetzt das Schulfach Meditation. Das sei der Anfang einer Gegenbewegung. Vergleichbar mit der Einführung des Schulsports im 19. Jahrhundert, weil den Fabrikarbeitern bei monotonen Bewegungen die Muskeln verkümmerten. Auch das Buch werde seine Bedeutung als Trainings-Instrument zum Denken behalten – „Print als Therapie“ (4).
Es ist ein warmer Sommerabend. Vielleicht zu spät für revolutionäre Anwandlungen. Der Applaus der der Studenten ist freundlich, aber nicht euphorisch. In der Stadt wird tags drauf von keinem Medium über die UdK-Veranstaltung berichtet. Berlin, die Medienhauptstadt, hat große Medienprobleme.
Source URL: https://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=3614
Copyright ©2024 Wissenschaftsdebatte unless otherwise noted.