by Wolfgang Goede | 20. November 2013 13:36
Vor 25 Jahren galt die Andenmetropole als gefährlichstes Pflaster der Welt. Seit dem Tod von Pablo Escobar hat sich die Stadt neu erfunden. Heute ist sie der Schrittmacher der Innovation in Lateinamerika und ein fruchtbarer Acker für die Wissenschaftsdebatte.
Der Marsch ins 21. Jahrhundert begann mit den Seilbahnen. Medellin war die erste Stadt der Welt, die die luftigen Kabinen als Verkehrsmittel einsetzte. Das Metrokabel verbindet die steilen Hanglagen der Stadt mit der Metro unten im Tal. Damit fanden die kolumbianischen Querdenker Nachmacher in aller Welt. So will auch München eine Seilbahn über die Isar bauen. Die Idee war der technologische Urknall. Seither boomt der Talkessel in den Zentralanden.
Er schickt sich an das Silicon Valley Lateinamerikas zu werden. Unweit des Zentrums zwischen Rathaus und der Antioquia Universität reckt sich der eigenwillige Backsteinbau von Ruta N in den Tropenhimmel. Hier schlägt das Herz eines neuartigen Innovations-Campus.
Er wird sich in zehn Jahren über ein einen Quadratkilometer großes Gebiet ausbreiten. Künstliche Intelligenz und Roboter, erneuerbare Energien, digitale Gesundheitsvorsorge – alles vom Feinsten, zu günstigen Preisen, planen die Entwickler: Die Innovationswellen sollen von Alaska bis Feuerland schlagen.
Dabei geht es offensichtlich nicht um Innovations-Hybris, um Fortschritt auf Teufel komm raus, wie an vielen anderen Stätten dieser Art. „Wissenschaft, Technologie, Innovation sind für uns sehr einfach, erreichbar und verstehbar für den normalen Menschen ebenso wie erschwinglich“, sagt Juan Camilo Quintero Medina, Direktor von Ruta N. „In diesem Sinne sind sie inklusiv, schließen den Menschen ein und lösen alltägliche Probleme“, betont Medellíns Innovationschef.
Dieses Konzept hat der Andenmetropole in den letzten Monaten einen Ansturm von deutschen Wissenschaftlern und Politikern beschert. Der erste war im Frühjahr 2013 Bundespräsident Joachim Gauck, gefolgt von acatech-Präsident Reinhardt Hüttl und Max-Planck-Präsident Peter Gruss. Alle drei Präsidenten waren voll des Lobes über den Geist des Aufbruchs. Sie streben eine enge Zusammenarbeit der bundesdeutschen Spitzenforschung mit der Andenregion an.
Im November erreichten Medellíns Innovationsaktivitäten ihren vorläufigen Höhepunkt. Ruta N widmete dem Thema ein zehntägiges Festival mit dem Namen „MedellINnovation“. Wissenschaftler aus ganz Amerika und Europa präsentierten ihre Forschungen. Auch Schüler der Stadt kamen zum Zuge. Sie stellten einfache Solaröfen zum Trocknen von Früchten und solartechnische Wasserreinigungsverfahren vor.
Teil des Veranstaltungspakets war ein Symposium über Innovationsjournalismus. Die Krise der Print-Medien, als Ergebnis der digitalen Revolution, war das beherrschende Thema. Sie knabbert auch an den Auflagen der lateinamerikanischen Presse. Eine Antwort darauf, so einige Panelisten, ist das Schaffen einer „Community of Interests“. Das Schlagwort kursiert auch in der deutschen Verlagswirtschaft.
Dahinter stehen hauptsächlich kommerzielle Interessen. Ganze Produktreihen werden rund um diese Interessen entwickelt. Diese werden dann in allen sozialen Netzwerken beworben. Journalismus spielt dabei nur noch unter Ferner Liefen eine Rolle.
Durch die forcierte Kommerzialisierung gerät nicht nur unabhängige journalistische Aufklärungsarbeit zunehmend unter die Räder. Das Modell entpuppt sich als sich unaufhörlich beschleunigendes Medienkarussell. Zunehmend mehr Menschen klicken, tippen und wischen nur noch, statt miteinander zu reden. Bei dem Igel-Hasen-Wettrennen halten am Ende nur noch die Jüngsten mit.
Die laufen bereits selbst Facebook und Twitter davon, beobachtet der langjährige Internetbeobachter Walter Helbig und setzen neue Standards. Neue Mikro-Communities wie WhatsApp oder SnapChat könnten morgen die Nachfolger der sozialen Netzwerke sein.
Deshalb, lieber Schuster: Bleib bei deinen Leisten!
Das verlangten in Medellín die Wissenschaftsjournalisten der liberalen Tageszeitung „El Espectador“. Hugo Leonardo Rodríguez, Leiter der Technologie-Redaktion, berichtete über den Versuch des kolumbianischen Blatts, sich mit Videos besser zu positionieren – ein totaler Reinfall. „Deshalb machen wir damit weiter, womit wir seit 127 Jahren erfolgreich sind: guten Zeitungsjournalismus“, sagte Rodríguez. Für die Zeitung schrieb Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez.
Für die vielen Nachwuchsjournalisten im Publikum hatte Veteranin Lisbeth Fog, international renommierte Wissenschaftsjournalistin aus Bogotá, einen Tipp. „Geht dorthin, wo das Zeitgespräch stattfindet, auf die Straßen“, empfahl sie. Das persönliche Interview sei für gute Berichterstattung und die Zukunft der Zeitung nach wie vor unersetzbar.
Darüber hinaus sollte, auch im Sinne der Ruta N Philosophie über das Einbinden der Bürger, die breite gesellschaftliche Debatte wissenschaftlich-technologischer Themen nicht fehlen. Medellíns Innovationscampus und die vielen neuen Bibliotheken, gerade in den ärmeren Stadtteilen, bieten eine prima Bühne für die Wissenschaftsdebatte.
Sie wäre das I-Tüpfelchen auf Medellíns neuem, ihm vom Wall Street Journal verliehenen Titel: global innovativste Stadt des Jahres 2013.
www.rutanmedellin.org
www.medellinnovation.org
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