by Wolfgang Goede | 29. Juni 2018 10:54
Grenzen des Individualismus: Das war das Thema von Radio Lora „Wissenschaft Kontrovers“ am 6. Juni 2018. Wie frei ist das Individuum? Ächzt es nicht im Klammergriff des Kollektivs? Wie kann das Individuum ausbrechen? Geht das überhaupt noch – oder sind das neue Kollektiv allmächtige Serverfarmen?
Wissenschaft-Kontrovers-Moderator Günter Löffelmann, Medizinjournalist, begrüßte Arno Kral, bisher mehrfach Gast in der Sendung, nunmehr Mitglied im Redaktionsteam: Herzlich willkommen!
Beim diesmaligen Thema über Individualismus argumentierte der IT-Experte Arno Kral gegen den Sozialwissenschaftler Wolfgang Chr. Goede. Kral trug Gründe vor, warum die individuelle Entfaltung zunehmend durch die sozialen Netzwerke und die Silicon-Riesen gehemmt werde. Goede dagegen setzte auf die historische und besonders in der abendländischen Kultur verwurzelte kritische Geisteskraft des Individuums.
INDIVIDUUM + KOLLEKTIV = YIN + Yang
Konsens war, dass das Individuum in allen Kulturen im Kollektiv eingebettet ist. Das regelt den Umgang mit dem Einzelmenschen, in Gestalt von Ritualen, Konventionen, Regeln. Die reichen, je nach Kultur, von starr bis flexibel. Das Wechselspiel zwischen den beiden Polen bezeichnete Kral als Yin und Yang, grundlegende Dialektik der Menschengesellschaft.
Goede machte darauf aufmerksam, dass die Kultur- und Zivilisationsgeschichte des Menschen von seriellen Ausbrüchen aus diesem Korsett getrieben sei, durch Einzelmenschen als Spitze der Veränderung und des Fortschritts, gegen mächtige Widerstände. Alle großen Schöpfungen des Geistes, ob in Kunst und Kultur, Technik und Wissenschaft, haben sich gegen die Beharrungskräfte des Kollektivs durchsetzen müssen, das den Status quo nicht riskieren möchte. Der Durchschnittsmensch fühlt sich in der Mitte am besten aufgehoben.
DEUTSCHES MUSEUM – DENKMAL INDIVIDUELLEN SCHÖPFERGEISTES
Goede: Das Individuum, in der Freiheit, selbstständig zu denken und die Ergebnisse seiner Reflexion durchzusetzen, auch gegen alle persönlichen Risiken, oft ein leidvoller Opfergang bis zur Vogelfreiheit, sei bis heute die größte Veränderungskraft. Als berühmtes „Denkmal“ dieser Geisteshaltung nannte Goede das Deutsche Museum in München.
Kral verwies auf die Tendenz menschlicher Gesellschaften, erfinderische Durchbrüche zu monopolisieren. So hätte der Mensch mit der Eisenbahn, deren Betreibern und den dahinter stehenden politischen Systemen ganze Kontinente unter sich aufgeteilt. Gleichwohl zeige die Geschichte, dass es regelmäßig gelinge, solche Monopole zu brechen, wie etwa den AT&T-Telefon-Riesen.
DIGITALE GLEICHSCHALTUNG
Mit der fortschreitenden Digitalisierung und dem Entstehen der sozialen Netzwerke sei aber „der gesellschaftliche Konsens aufgekündigt worden“, sagte Kral. Der Nutzer sei ein Objekt einer Gleichschaltungsmaschinerie, kraft der auf sein Profil maßgeschneiderte Informations- und Werbeinhalte verschickt würden, um individuelles Verhalten zu steuern. „Das neue Kollektiv“, kritisierte er, „sind die Serverfarmen“.
Am Ende der Sendung steuerte Moderator Günter Löffelmann eine Synthese der unterschiedlichen Standpunkte an: die singuläre und disruptive Veränderungskraft des Einzelmenschen gegen die schützende und regulierende Kraft der Gesamtgesellschaft, ein diffiziles Beziehungsnetz, das ständig in beide Richtungen wirkt und um eine ausgleichende Balance bemüht ist. Eine Zusammenführung könnte im Folgenden bestehen.
TRAGBARE TELEFONZELLE GEGEN SMARTPHONE?
Kral hatte das Engagement der Bürger gegen die Atomwiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf als Ergebnis guter kollektiver Kooperation herausgestellt. Das habe zum historischen Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie geführt, einem Modellfall für die Welt.
Goede hatte durch die Sendung argumentiert, dass das Silicon Valley nur deshalb so viel Macht habe entfalten können, weil die Menschen, besonders auch Intellektuelle so kritiklos den digitalen Neuerungen gefolgt seien. Als Gegenbeispiel hatte er den Gebrauch einer „tragbaren Telefonzelle“ in Gestalt eines nicht-intelligenten Tastentelefons propagiert.
HUMANE DIGITALISIERUNG EINFORDERN
Gleichwohl, die Arme der Kraken werden länger, die galoppierende Digitalisierung und Durchalgorithmisierung der Gesellschaft von Mal zu Mal intensiver, ohne Rechner ob auf dem Handy oder PC/Tablet ist ein Leben fast nicht mehr möglich, deshalb: Wäre es nicht Zeit, in Gedenken an die erfolgreiche Wackersdorfrevolte diesen Widerstand, getriggert von beherzten Individuen, später dann getragen vom Kollektiv, konzertiert ins Silicon Valley zu tragen und dort eine humane Digitalisierung einzufordern?
In der Abmoderation dankte Günter Löffelmann Günter Bauer für das wie immer verlässliche Wahrnehmen der Sendetechnik und kündigte für die Wissenschaft-Kontrovers-Folgesendung am 6. September 2018 das Thema Transhumanismus an: Wenn technische Assistenzsysteme und Prothesen jedweder Art immer mehr in Körper, Geist, Seele eingreifen.
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Literatur zum Vertiefen der Kontroverse, in Klassikern und aktuellen Bestsellern:
Immanuel Kant: Die Kritik der reinen Vernunft
Richard David Precht: Jäger, Hirten, Kritiker: Eine Utopie für die digitale Gesellschaft
Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine deine Social Media Accounts sofort löschen musst
Audio-Datei zum Nachhören der Lora-Kontroverse (bei Löffelmann „Form und Füllung“ finden sich auch die Mitschnitte aller vergangenen Wissenschafts-Kontrovers-Sendungen beim Münchner Bürgerradio Lora 92,4)
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