by Wolfgang Goede | 22. Februar 2023 11:19
„Laß das Vergangene vergessen sein!“ Mit diesem Werbespruch warb 1946 die Firma Kleinol für sein Haarfärbemittel. Es sollte durch ihr Kriegslos ergraute Frauen in 20 verschiedenen Tönungen zu ihrer jugendlichen Haarfarbe zurückfinden lassen.
Nein, es gab 1945 nach dem Sieg über die Nazi-Diktatur keinen Neustart – oder mit den schleswig-holsteinischen Historikern Uwe Danker und Astrid Schwabe: „Die retrospektiv oft beschworene ‚Stunde Null‘ war […] eine Mär.“ In dieser „Nach-Hitler-Zeit“ (Terminus der Münchner Ehrenbürgerin Hildegard Hamm-Brücher für die Periode 1949-1969, Beginn von Willy Brandts Kanzlerschaft) kehrten alte Parteigenossen und NS-Täter in Verwaltung, Justiz und Politik, Polizei und Schulen auf ihre alten Posten zurück. Das neue Personal blieb größtenteils das alte in der jungen von den West-Alliierten verordneten Demokratie.
In ihrer Studie Die Volksgemeinschaft in der Region arbeiten die beiden Autoren die nationalsozialistische Herrschaft am Beispiel des nördlichsten Bundeslandes akribisch auf, dicht an relevanten Quellen und voluminös auf über 500 Seiten im Fast-DinA-4 Format, die freilich viele Fotos, Zitate, Zeitungsausschnitte, Grafiken auflockern.
Das schier Unverstehbare wird verstehbar. Wie das „Völkische“ funktionierte, nämlich mit viel Zuckerbrot (darunter Karrieren) und Peitsche (Terror); was das ewige Beschwören der inneren Feinde (Juden) und äußeren (Gewinner des Ersten Weltkriegs) bewirkte, nämlich auch bei Skeptikern die Solidarisierung mit dem Regime zu begünstigen. Der GAU der Zivilisationsgeschichte, auch als größter anzunehmender Zivilisationsbruch konnotiert, wird greifbarer – ganz werden wir ihn vermutlich nie begreifen.
Im Nachhinein war’s Keiner gewesen. Das „Wir-mussten-ja“-Narrativ und Befehlsnotstände feiern bis heute fröhlich Urständ, und selbst Hardcore-Täter schlüpften durch die Netze der NS-Verfolger – mit wiederum Anleihen aus der Reklame. „Persilscheine“ wuschen die Akteure aus dem Maschinenraum der Tyrannei rein, in denen Bekannte, Freunde, oft Gefolgsleute bescheinigten, dass die Beschuldigten ja nie überzeugte Nazis gewesen seien, sondern stets ehrenwerte Bürger. Die Entnazifizierung war eine Farce.
Massenmörder tauchten unter und wurden von wissenden Mitbürgern gedeckt. So wie der Nervenarzt Professor Dr. Werner Heyde, Himmler-Vertrauter und Euthanasie-Vollstrecker, durch den über 80.000 Kranke und Behinderte ums Leben kamen, der aber unter anderem Namen am Schleswiger Landessozialgericht weiter praktizierte.
„Von 1950 bis 1959 erstellt ‚Dr. Sawade‘ mehr als 7.000 Gutachten“, irrwitzigerweise auch in Entschädigungsverfahren von NS-Opfern, schreibt das Autoren-Duo. Spätestens 1955 ist die falsche Identität den Autoritäten bekannt, doch erst 1962 wird Heyde angeklagt. Vor Prozessbeginn 1964 erhängt er sich. Die vielen weiteren akkurat dokumentierten Fallbeispiele in diesem Buch sind nicht weniger skandalös für die BRD-Gründerzeit.
Kollektives Verdrängen, sich umtönen und weiß waschen, Abtauchen, Heucheln, Leugnen bringt eine Karikatur (S. 479) treffend auf den Punkt mit der Sprechblase: „… und dann kamen 1933 viele braune Lebewesen aus dem Weltall, mordeten und brandschatzten überall und verschwanden 1945 wieder von der Erde … “
Eine Frage bleibt beim Stöbern, Blättern, Lesen in diesem wichtigen aufklärerischen Werk. Vermag es seine Zielgruppe, Schüler, wirklich zu erreichen? Müssten Sponsoren wie Geldinstitute so wie auch Verlag und Autoren nicht über eine Digital-Version nachdenken? Kein E-Book, sondern eher ein schlankes handyfähiges Format mit interaktiven Angeboten, etwa Videos und Audios zu Gedenkstätten und vielen weiteren Links in die weitläufige Historie. Nur so werden sich viele junge Leute auf die Vergangenheit ihrer mittlerweile Urgroßeltern einlassen wollen. Ein Zwei-Kilo-Konvolut, auch wenn an Bildungseinrichtungen großzügig verteilt und beworben, dürfte heutzutage für die Immer-weniger-lesende-junge-Welt nicht mehr so richtig woke sein.
Uwe Danker, gebürtig auf Sylt, verwurzelt in Kiel, ist emeritierter Historiker der Europa-Universität Flensburg und ausgewiesener NS-Experte. Das Literaturverzeichnis seiner aktuellen Publikation enthält über 70(!) eigene Veröffentlichungen zum Thema.
Das Werk fügt sich in eine Reihe weiterer aktueller Veröffentlichungen über die NS-Zeit in Deutschlands Norden. Dankers Historiker-Kollege Dr. Helge-Fabien Hertz von der Kieler Christian-Albrechts-Universität untersuchte 729 Pastoren der evangelischen Kirche Schleswig-Holsteins. Sein 2022 publiziertes Pastorenverzeichnis wirbelte Staub auf. Die Seelsorger waren mehrheitlich glühende Nazis, auch in den Reihen der vermeintlich widerständig-bekennenden, eher „verkennenden Kirche“. Erschreckend: Viele der online nachlesbaren Predigtauszüge lesen sich wie reine Goebbels-Propaganda.
2022 feierte auch Kiels Gartenvorstadt Kronshagen ihren 750. Geburtstag. Der renommierte Kieler Historiker Oliver Auge legte dazu eine Jubiläumsschrift vor (wie Danker/Schwabe im Husum Verlag veröffentlicht). Darin überführt seine Kollege Ulrich Erdmann den langjährigen und beliebten Pastor der Gemeinde der SA-Täterschaft. Das war seit dessen Beteiligung an einem Terrorakt 1936 allgemein bekannt, spätestens seit 1999 in einer Fachzeitschrift auch publiziert, und wurde erst letztes Jahr, 2022, öffentlich sowie auch im kirchlichen Gemeindebrief angesprochen. 77 Jahre lang „kommunikativ beschwiegen“ (Hermann Lübbe), so wie eine Unzahl anderer Monstrositäten der Nazi-Zeit, bis heute der Untersuchung harrend.
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