by Wolfgang Goede | 13. März 2023 22:27
„Was, du hast noch keinen freiwilligen sozialen Dienst geleistet, wieso?“ Diese Frage verriete, dass diese Einrichtung im Nervensystem der Gesellschaft angekommen wäre, so selbstverständlich, wie einst die soldatische Wehrpflicht die obligatorische Frage nach sich zog: „Hab’n Sie überhaupt gedient, Mann?“
Ein soziales Pflichtjahr wird kontrovers debattiert, seit Bundespräsident Steinmeier diese aufwarf, als Maßnahme gegen die zunehmende Polarisierung und für mehr Solidarität. Die aktuelle Diskussion um die Reaktivierung der Wehrpflicht setzt das Thema noch höher auf die Agenda. Radio Lora Wissenschaft Kontrovers griff es im März 2023 auf und befragte dazu zwei Praktiker: Gisela Joelsen, Leiterin der Freiwilligendienste im Augustinum, Seniorenresidenz, und Benedikt Michael, Leiter der Freiwilligendienste Südbayern.
Grundsätzlich halten beide selbstbestimmte Motivation (Intrinsik), wollen und möchten, für sinnvoller als Pflicht und Zwang (Extrinsik), müssen und sollen. Insgesamt hat sich das freiwillige soziale Jahr nach Aussetzung der Wehrdienstpflicht 2011 und Wegfall der Zivildienstleistenden als erfolgreich erwiesen und durchgesetzt. Von 700.000 Schulabgängern jährlich hängen 100.000 ein Freiwilligenjahr an in einer sozialen Einrichtung, Sport oder Kultur.
Diese Regelung ist auch bekannt als Gap-Jahr, vor allem, wenn es im Ausland absolviert wird. Mit dieser „Lücke“ überbrücken Schulabgänger die Zeit bis zu Studium oder Berufsausbildung, für viele eine kreative Nachdenkphase über ihre Zukunft. In sozialer Arbeit, so Joelsen, erlernen die 16- bis 26-jährigen Absolventen wichtige Sozialtechniken, die Softskills, und erfahren zugleich, sich in diversen und heterogenen Umgebungen zu bewegen; während im dreigliedrigen deutschen Schulsystem sie eher in Blasen zuhause waren, ergänzte kritisch Michael.
Die Augustinum-Verteterin räumte ein, dass in den Sozialeinrichtungen für die Aufnahme weiterer Freiwilliger noch „Luft nach oben“ sei. Aber die Diskussion mit den Moderatoren Lisa Popp und Günter Löffelmann ließ auch Grenzen erkennen. Ein pflichtverordneter Massenandrang würde das System der pädagogischen Begleitung der Freiwilligen sprengen so wie das Anleitungspersonal in den Einrichtungen überfordern. Sichtbar wurden auch bislang wenig artikulierte soziale Benachteiligungen einer Sozialpflicht.
So müssten Schulabsolventen der Nichtmittelschicht in der Regel sofort in die reguläre Ausbildung und Arbeit zum Geldverdienen. Das gelte mittlerweile für viele junge Menschen, die infolge demografischer Verwerfungen und Überalterung der Gesellschaft um Sozialleistungen und Renten bangen. Und: Freiwillige mit körperlichen Einschränkungen wären nicht überall einsetzbar, sodass zunächst bauliche und strukturelle Hilfen geschaffen werden müssten.
Aber: Durch großzügigere Auslegung des freiwilligen Sozialeinsatzes ließe sich dieser erheblich attraktiver gestalten. Joelsen verwies auf Regelungen in einigen Bundesländern, die Schulabbrechern nach ein oder zwei Jahren Sozialdienst den Abschluss, sogar das Abitur nachreichen, im O-Ton:
„Nach erfolgreich abgeschlossener 11. Klasse (Allgemeinbildendes Gymnasium) oder 12. Klasse (Berufliches Gymnasium), also nach Jahrgangsstufe 1, ohne dabei mehr als 8 Kurse unterpunktet zu haben, kann man ein Jahr lang ein Freiwilliges Jahr machen – und bekommt dann das Zeugnis der Fachhochschulreife.“ Und: „Bei einigen Anbietern kann man einen zweijährigen Dienst machen und gleichzeitig den mittleren Abschluss erwerben.„
Diese Modelle ließen sich ausbauen, fand Michael: Warum nicht mehrmonatige Sozialpraktika in Schullehrpläne einbauen? Und wenn schon Sozialpflicht, so sein Pitch: Dann müssten aus Gleichheitsgründen auch Rentner in diese staatsbürgerliche Pflicht genommen werden.
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