Er ist immer noch da

Hitler an allen Schauplätzen, in allen Medien, auf allen Wellen: Der Führer hat sich in Mythen verschanzt, im kollektiven Gedächtnis der Menschheit vermint, selbst im kolumbianischen Outback wird man auf ihn angesprochen, meist bewundernd; als Held und Heilsbringer, quasi-göttlich, lebt er omni-präsent fort.

Was steckt dahinter? Ein zentrales Kapitel in Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien erforscht, ob Hitler dem Führerbunker entkam, sein Selbstmord fingiert war, ablenken sollte von seinem Weiterleben – und Wiederkehr?

Detektivarbeit

Auf 65 Seiten geht der britische Historiker Richard J. Evans sämtlichen Fährten nach (so wie er auf den vorangehenden 200-plus Seiten u.a. Konspirationen um Reichstagsbrand und Heß’schen Flug nach England durchleuchtet). Als aufklärender Lesestoff ist der Bunkerpart zu lang geraten, detail-verliebt, mit Redundanz-Schleifen, insgesamt zu wenig in die Tiefe des Themas vordringend.

Aber was Evans an Beispielen belegt: Verschwörungstheorien zu erschüttern ist penible Detektivarbeit an den Quellen, in sämtlichen Verzweigungen ihnen nachgehen, verifizieren, vergleichen, Falsches und Unsinniges aussortieren – Wissenschaftshandwerk halt. Gebont.

Wunderwaffe

Oft reicht reine Logik. Wer behauptet, dass Hitler bei seiner Flucht mit Plänen für den Bau einer Atombombe unterwegs war, ignoriert, dass die Nazis einer schrulligen „arischen Physik“ huldigten, worin moderne Atomphysik keinen Platz hatte. Alles, was in Verbindung mit Einstein stand, war „jüdische Physik“, verhasst, sodass der Bau einer Atombombe schon aus der Rassenlehre heraus gar nicht möglich gewesen wäre, was die Niederlage Hitlers mit besiegelte.

Die von den Nazis als psychologisches Kampfmittel propagierten „Wunderwaffen“ waren nichts gegen die Macht der Kernspaltung, die alle Vorstellungen und die bis dahin übliche Waffentechnik sprengte, rational-wissenschaftlich.

Arier-Mythos

Die Suche nach den Wurzeln des Ariertums in Tibet und Südamerika war genauso irrational, so wie die gesamte Blut-und-Boden Ideologie, wie von Hitler in seinem „Kampf“ beschworen und allen Protagonisten nachgebetet, besonders in der Wissenschaft. In diesem umfassenderen Sinne war der gesamte Nationalsozialismus eine Verschwörungstheorie. Kein Wunder, dass heutige Verschwörer darauf abschwirren wie Fliegen auf Honig.

Zu dieser Grundidee nationalsozialistischer Verschwörung hätte man sich, statt ermüdender Bunkerfluchtbeispiele, mehr Vertiefung in diesem Buch gewünscht.

Machtmittel

Evans analysiert, was die Erfinder von Verschwörungen motiviert und wie sie arbeiten. Treiber sind politische Motive, so wie bei Stalin, der Hitler als Feigling darstellen wollte, der einfach türmte; mit dieser Insinuation wollte der Tyrann dem Sieg der Sowjets die Krone aufsetzen und gleichzeitig seine Feinde mit und vor seiner Allmacht warnen.

Wie die Linken, so die Rechten: Verschwörer und Propagandisten historischer Manipulation sind häufig Anhänger aus der rechtsextremen Szene, die weiter oder schon wieder an die Nazi-Dystopie glauben und mit allen Mitteln Ewig-Gestriges verbreiten helfen.

Formel

Weiterer Katalysator ist der Kommerz, weil Verschwörungen medial gut verkäuflich sind und so wie die Klatschpresse ein breites Publikum befriedigen, wie Porno.

Das dramaturgische Strickmuster der Verschwörungs-Regisseure, so Evans, ist dabei immer dasselbe: Unwahres behaupten, belegt mit dubiosen Quellen, Kritik abblocken, leugnen, Unwahres so lange wiederkäuen, bis es glaubhaft wird.

Wiedergänger

Wie das funktioniert, hat der ehemalige US-Präsident Trump mit der Stunde seines Amtsantritts und „alternativen Fakten“ vier Jahre lang bei jeder Pressekonferenz demonstriert, bis zur Nichtanerkennung seiner objektiv feststehenden Wahlniederlage und dem von ihm mit inszenierten Sturm aufs Capitol. Insofern: Nichts Neues unter der Sonne, links, rechts, auch dazwischen, bis in „unvordenkliche Zeit“, so Evans.

Charaktere, die ins Superman-Übermensch-Bild passen, in denen sich Diabolisches mit Heiligenschein paart, sind prädestiniert für Subjekte von Verschwörungstheorien. Der kolumbianische Mafiaboss Pablo Escobar spukt Jahrzehnte nach seinem Ableben durch die TV- und Streaming-Kanäle. Sie inspirieren Nachfolger, zementieren in der Welt ein fiktives Kolumbienbild. An seinem Grabe versammeln sich regelmäßig Scharen von Menschen, oft in Tränen aufgelöst.

300mal?

Kurios an Hitler ist, dass er an praktisch allen Orten der Welt aufgetaucht war, besonders häufig in Argentinien – logisch, wohin sich viele Nazis gerettet hatten, bis in die Antarktis; mit der Wunderwaffe Flugscheibe alias fliegende Untertasse sogar bis auf den Mond.

Dass der Hitler ähnelnde Rentner Albert Panka in 24 Nachkriegsjahren 300mal (!) verhaftet wurde – statistisch über 12mal im Jahr und damit ein ganzes Polizeirevier in Atem haltend – hat eine komische Note. Als Quelle hierfür verweist Evans auf den US-amerikanischen Kollegen McKale. Die Ziffer klingt so astronomisch hoch, dass sie akribisch-detektivisches Nachprüfen verlangte, eventuell durch eine allgemeinere Numerale ersetzt werden müsste.

Lassen die Hitler-Entmystifizierer hier selbst den Mythos ins Kraut schießen?

PS: NS-Studien sind für den Wissenschafts- und Technikjournalismus relevant. Auch er ließ sich 1933-45 gleichschalten, teils im vorauseilenden Gehorsam, teils überzeugt in ideologischer Passion. Die Journalistenvereinigung TELI gehörte in den Nuller-Jahren zu den ersten, die ihre NS-Geschichte aufgearbeitet haben. Am Anfang war die TELI ist tatsächlich nur ein Anfang und bedarf forscherischer Vertiefung.

Richard J. Evans
Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien
Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen
Originaltitel: The Hitler Conspiraciesn (2020)
ISBN: 978-3-421-04867-7
DVA 2021, 26 €

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