by Wolfgang Goede | 31. Juli 2023 04:45
Rupert Sheldrake hat mit Frank Sinatra eines gemein: „I do it my way.“ Seit Jahrzehnten ist der Brite mit seiner Wissenschaftskritik das „enfant terrible“ in der Forschung. Er ist ein wortgewaltiger und rastloser Gegner einer materialistischen Wissenschaft, die die Natur aufs Mechanistische, reine Funktionalität herunterbricht.
Sheldrake selbst erkennt mehr dahinter, ein verbindendes Medium hinter den Phänomenen der Natur und des Lebens, plädiert für mehr Öffnung, neue Hypothesen, Mut zur Grenzüberschreitung. Mit knapp 80 hat er noch mal nachgelegt, seinen Bestseller „Wissenschaftswahn“ (The Science Delusion) aktualisiert und neu herausgeben.
Anders als seine Landsleute und frühen Kollegen, Newton und Bacon, die zum einen die Welt und den Kosmos für ein Uhrwerk hielten, mit Gott an der Spitze, zum anderen die Natur zur wissenschafts-technischen Ausbeutung freigaben, beschreibt Sheldrake die Schöpfung als indeterministisch und frei, nicht festlegbar. Der Beweis dafür ist für ihn die Evolution.
Die überkommene Wissenschaft agiert für ihn wie ein Wahrheitskartell. Mit ihrem Objektivitätsanspruch, Dogmen, Auftreten ihrer Exponenten vergleicht er Wissenschaft mit einer Priesterkaste. Über die ständig zunehmende Anzahl wissenschaftlicher Zeitschriften habe keiner mehr die Übersicht. Sie seien, im Peer Review oft wenig wissenschaftlich überprüft, für Verlage eine „Geldmaschine“. Experimente, Kern der Wissenschaft, seien in ihrer Komplexität nicht mehr nachprüfbar.
Sheldrakes Liste der Kritik ist lang. Darunter auch die Funktionalisierung von Wissenschaft, um Erkenntnisse zu vernebeln. So durch die Tabakindustrie, die mit Gutachten jahrzehntelang in Zweifel zog, dass Nikotin Krebs erzeugt. (Naomi Oreskes Buch darüber heißt auf Deutsch „Machiavellis der Wissenschaft„.)
Den Auswüchsen setzt Sheldrake einen schlichten, in der Wissenschaftstheorie akzeptierten Satz entgegen: Einen Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit gibt es nicht. Und: Die Welt braucht einen Reset, eine Aufklärung der Aufklärung (die seines Erachtens die Wissenschaft in diese Bredouille gebracht hat).
Dem materialistischen Wissenschaftsmodell stellt Sheldrake sein eigenes entgegen, einem vom Geist und der Idee sich herleitenden, die sich auch idealistisch oder metaphysisch nennen ließe. Das sind Sheldrakes morphogenetischen Felder. Danach ist die Welt ein ganzheitliches und sich selbst organisierendes System mit einer Art kollektivem Gedächtnis. Dies wird von vielen seiner Kollegen genauso unwissenschaftlich erachtet, so wie Sheldrake den Materialismus und Physikalismus attackiert.
Wo der unermüdliche Warner und Advokat von vielen Recht bekommen dürfte: Die Wissenschaft bedarf noch mehr der Debatte, vor allem der öffentlichen. Diese Öffnung ist auf einem guten Weg (wozu auch die TELI-Wissenschaftsdebatte beitrug). Debatte aber reicht Sheldrake nicht: Ein Prozent der Forschungsgelder sollten Patientengruppen und Bürgerwissenschaftlern zur Verfügung gestellt werden (S. 476). Hilarious? Krankenkassen finanzieren wie selbstverständlich die deutschen Selbsthilfegruppen mit.
Insgesamt: Der unkonventionelle Biologe ist ein wichtiger Spieler auf dem Schachbrett der Wissenschaft, ein freigeistiger Maverick: So wie die Politik braucht auch die Wissenschaft pro und contra, Grundtenor der Demokratie.
Allgemeiner: Sheldrake war der Luther der Wissenschaft. Bisher. Nachfolger in Sicht?
Rupert Sheldrake
Der Wissenschaftswahn
Warum der Materialismus ausgedient hat
Knaur München 2021
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