by Wolfgang Goede | 18. August 2023 12:39
Wenn so ein Großkaliber die Bühne betritt, um uns die Twists der Wissenschaft des letzten Jahrhunderts nahezubringen, spitzt man die Ohren. Ernst Peter Fischer, studierter Naturwissenschaftler in vielen Disziplinen, der auf hundert Veröffentlichungen zurückblickt, darunter sehr lesbare und allgemeinverständliche über hochkomplexe Fragen, unternimmt in Schrödingers Katze auf dem Mandelbaum einen Rundumschlag. Dabei gelangt er in vielen seiner Betrachtungen zu einem eher verstörenden Ergebnis. Die Realität, die Wirklichkeit, die Materie, alles was uns so greifbar und selbstverständlich erscheint, gibt es eigentlich gar nicht, jedenfalls nicht so richtig, und das meiste ist doppeldeutig.
Fiktive Atommodelle
Wie oft haben wir diese Begriffe gehört, etwa Heisenbergs Unschärferelation, aber so richtig eingeleuchtet hat sie Vielen nicht; weshalb der Autor sie nebst vielen anderen Erkenntnissen moderner Forschung ein-ein-deutig beschreibt, verständlich auch für Grundschüler.
Atome sind so winzig, dass sie sich langwelligem Sonnen- oder normalelektrischem Licht entziehen. Das wäre ungefähr so, wie wenn man mit einer großen Rohrzange ein Sandkörnchen erfassen wollte. Erst mit hochenergetisch-kurzwelligem Licht lassen sich atomare Gefüge abtasten und darstellen, aber: Dadurch erhalten die kleinsten Baustrukturen so starke Impulse, dass sie ihr Aussehen verändern. Deshalb lassen sich Atome und ihre Elektronen nur als Wölkchen darstellen. Die in unseren Schulen gelehrten Vorstellungsmodelle, wonach Atome Planeten mit umlaufenden Monden gleichen, ist Fiktion.
Das Verhalten der Atome finden die Entdecker wie auch der Buchautor zutiefst „menschlich“, was die Logik dieses Vorgangs greifbarer macht. Beobachtete Menschen verhalten sich anders als unbeobachtete, die zum Beispiel fluchen, gähnen, rülpsen und lautstark andere Körpergase freisetzen – was sie in der Öffentlichkeit tunlichst unterdrücken.
Quanten-Spuk
So holt Fischer an vielen anderen Beispielen, zum großen Teil aus der Physik und ihren legendären Experimenten, die Vorstellung vom Sockel, dass der Mensch die Krone der Schöpfung wäre und diese unter Kontrolle hätte. Auch die berühmten Quanten machen, was sie wollen. Während Quantensprünge von der Wirtschaft als steile Wachstumskurven adoptiert worden sind – in der Physik sind sie vorstellungsmäßig nicht nachvollziehbar. Fischer verdeutlicht das mit einem Bleistiftstrich, der auf eine höhere Ebene hüpft, ohne dass es eine Querverbindung zwischen beiden Linien gäbe.
Die Quanten umtrieben bereits Einstein, der sie als „Spuk“ labelte. In einem berühmten Experiment demonstrierte der nordirische Physiker Bell die Verschränkung von Elementarteilchen, will sagen, dass sie überlichtschnell kommunizieren (Buch-Corrigenda: Nicht der Forscher selbst, die Vorfahren der Mutter stammten aus Schottland, S. 73). Die Wissenschaftsliteratur spricht von der Bellschen Ungleichung und Paradoxon.
Ungleich-alte Zwillinge
Ja, der Einstein! Revolutionär der Physik, bis heute ihr berühmtester Vertreter, der am Ende die moderne Welt auch nicht mehr so richtig verstand. Dabei hatte er selbst den Anstoß dazu gegeben. Etwa mit dem Nachweis über die uneindeutige Doppelnatur des Lichtes als Welle und Teilchen zugleich (was die von Fischer unbeantwortete Frage aufwirft, warum Atome sich nicht durch Licht*partikel* abtasten lassen, wodurch jene eventuell authentischer blieben und ihre Façon bewahrten).
Wer fragt erntet Fragen! Einsteins Zwillingsparadoxon ist eigentlich genauso „spukhaft“ – so wie die Quanten für den Meister der Relativität selbst. Wenn ein Zwillingsteil für lange Zeit mit hoher Geschwindigkeit in einer Raumkapsel und die Erde kreiste und es dann zur Erde zurückkäme, wäre es jünger geblieben als das terrestrisch verbliebene Teil, denn: Zeit ist nicht absolut, sondern abhängig von der Geschwindigkeit. „Gott würfelt doch“, müsste Einsteins berühmtestes Zitat heißen.
Natur foltern
Fischer macht den Bruch zwischen der alten und neuen Physik sichtbar. Der Erfinder der Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert wollten wie Lord Bacon die Natur auf ihre kleinsten Bestandteile herunterbrechen, „notfalls mit der Folter der Inquisition, sie sich gefügig machen wie Sklaven“ (O-Ton), um ihre Geheimnisse für den menschlichen Fortschritt zu nutzen.
Natur war für die Pioniere eine Art Maschine, so wie für Newton ein Uhrwerk, mit Gott oben drauf. Heute wissen wir, dass auch scheinbar robustestes Wissen nur eine Annäherung ist, so wie es den Kreis in Euklids Idealform gar nicht gibt, sondern er letztlich aus einer Vielzahl von Geraden besteht, das geometrisch anscheinend so festgefügte Himmelszelt ein höchst veränderliches ist.
Materie oder Geist?
Am Ende ist all unser Wissen nur relativ, komplementär, dual, polar; so wie Natur- und Geisteswissenschaften, Wissenschaft und Kunst, Ratio und Intuition/Emotion, Verstand und Seele/Herz, These und Antithese; das alles, wenn man so will, mit einer stark metaphysischen, über der Materie schwebenden (vergeistigten) Komponente.
Ist es am Ende die ewige Spannung zwischen diesen Gegensätzen, bewusstes Erleben von Glück und Leid, das Geworfen-Sein zwischen Leben und Tod, welches den Menschen seit Anbeginn seiner Zeitgeschichte zum künstlerisch-forschenden Wesen gemacht hat – Ausgang unbestimmt?
Freuds Literaturnobelpreis
In dieses Gegensatzpaar gehört auch die Freudsche Tiefenpsychologie, die Fischer süffisant in der Tonalität als nicht-wissenschaftlich einstuft und die sich allenfalls für einen Nobelpreis in Literatur geeignet hätte, zitiert er eine forscherische Kapazität. Und auch der große Einstein hätte sich immer gegen einen Nobelpreis für seinen jüdischen Glaubenskollegen ausgesprochen. Nein, den Freud mag der Fischer nicht, so viel zur Macht der Subjektivität.
Fakt indes ist, dass obzwar der Wiener bis heute eine veritable Anhängerschaft um sich schart, seine Therapie indes hoch umstritten ist, Freud aber mit dem Unterbewusstsein genau eine der elementaren Komplementaritäten erfasst und zur Existenz verholfen hat. Wem sind seine Träume beim Erwachen und die darin durchstandenen Konflikte nicht schon realistischer vorgekommen als sein bewusstes Leben im Diesseits der Realität, ganz egal, welche Schlüsse er daraus zieht oder auch nicht?
Schrödingers doppeltes Lottchen
Bei aller Klarheit, mitunter Witz, auch sprachlicher Virtuosität: Viele Phänomene schafft Fischer nicht richtig aufzuklären, so wie die im Titel beschworene Katze (ein doppeltes Lottchen?) und auch der Mandelbaum bleibt vage, der Mathematikteil des Buches ist oft zu bleischwer. Fischer klebt bei allen sich selbst eingeräumten Freiheiten doch zu sehr an der Wissenschaft und der Leser fragt sich, ob es denn nicht auch ein paar Gramm leichter ginge.
Das Buch erschien erstmals 2006, steht alles in allem mithin auf dem forscherischen Stand der Jahrhundertwende. Das mag heute manchen wie Mittelalter vorkommen. Für die Neuauflage (immerhin zu einem sehr günstigen Preis) hätte man sich im Vor- oder Nachwort eine Aktualisierung gewünscht, zumindest einen Zwischenruf – hat sich seither der Blick der Forschung verändert, was ist der Spin des 21. Jahrhunderts? Aber vielleicht gibt es ja auch nichts Neues und alles ist gesagt.
Philosophische Physik
Drei Zitate, die das Thema und seine Vielbödigkeit einfangen, Physik fast als Denkform der Philosophie zelebrieren, fundamentaler Gegensätzlichkeit einen roten Teppich ausrollen, sie zum wissenschaftlichen Prinzip erheben – warum nicht mehr auch im Schulunterricht?
Niels Bohr über das Hufeisen über seiner Tür: Nein, abergläubisch sei er nicht, „aber ich habe gehört, sie tun ihre Wirkung auch, wenn man nicht daran glaubt“. (S.54)
Werner Heisenberg: „Das Gegenteil einer richtigen Behauptung ist eine falsche Behauptung. Aber das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann wieder eine tiefe Wahrheit sein.“ (S. 58)
Goethe in Epirrhema: … „nichts ist drinnen, nichts ist draußen, denn was innen, das ist außen,“ … (S. 88)
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