by Wolfgang Goede | 16. Oktober 2023 15:10
Warum? Warum ist dies der vierte Anlauf? Warum fällt es dem Rezensenten so schwer, etwas über ein Buch zu sagen, das er mit großer Wonne gelesen hat?
Fabelhafte Rebellen von Andrea Wulf stellt den Jenaer Kreis der Jahre um 1800 auf die literarische und forscherische Bühne. Um die legendären Dichter und Denker Goethe und Schiller, dort und im benachbarten Weimar ansässig, fand sich ein erlauchter Kreis deutscher Geistesgrößen zusammen, die im kleinen Jena zeitweise lebten bzw. an der dortigen Universität lehrten, die den Ruf großer Liberalität hatte. Es handelt sich u.a. um Schelling, Novalis, Fichte sowie intellektuelle Frauen wie Caroline von Humboldt und Dorothea Schlegel. Aus dieser Chemie und in diesem Ambiente von Freiheit, so die These der Autorin, wurde die Frühromantik geboren sowie ein neues, für die damalige Zeit neues Ich-Bewusstsein.
Blick durchs Schlüsselloch in die Geistesgeschichte
Die 400 Seiten dieses Buches sind insgesamt ein großer Gewinn. Warum? Da ist zunächst die Person der Autorin, die sich im Vorwort persönlich auf das Thema einlässt und ihren langen und stolperigen Weg zur Ich-Werdung und renommierten deutsch-britischen Autorin beschreibt (Verfasserin des preisgekrönten Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur). Darin holt sie viele Lesende ab. Denn Selbstermächtigung ist auch heute noch fundamental für viele Menschen.
Sodann ist Wulfs Erzählstil packend. Die vielen Erzählerchen zu ihren Protagonisten, die Liebesgeschichten, Schillers ewiger Kampf mit Schreibblockaden (wie schön, dass von einer so großen Berühmtheit zu erfahren), Goethes Provinzialismus, der üble Klatsch über seine Lebensgefährtin, der über die Zeit wie ein Asteroid hereinbrechend republikanisch-demokratische Geist und wie der in diesem Kreise philosophisch-weltanschaulich rezipiert wurde: Das ist alles wie durch ein Schlüsselloch in die Geschichte und ihre künstlerischen Macher zu spähen. In dieses Szenario schmiegt sich die zweite These der Autorin: Dass die Französische Revolution in Deutschland in Jena zündete, aus diesem Kreise heraus.
Frauen waren Eigentum ihrer Männer
Der damalige Zeitgeist, der bis zum Ende der Kaiserzeit anhaltende Ständestaat, fror Menschen in einer Art geistiges Gefängnis ein, insbesondere Frauen. Sie galten als Eigentum ihrer Väter und gingen später in das rechtlose Eigentum ihrer Ehemänner über. Deshalb um so spannender, wie die weiblichen Protagonistinnen diese Gitter knackten. Eine Wirtin brauchte zum Anschaffen eines Billardtisches die Erlaubnis ihres Landesherrn. Es war eine von oben nach unten rigoros durchorganisierte Adelsgesellschaft. Das Entdecken und Ausleben des Ichs war eine große Leistung. Ob der daraus geborene überbordende Individualismus heute ein großer Fortschrittsvektor ist, wäre eine andere Frage, die noch mal separat zu erörtern wäre.
So weit, so gut. Verwirrend ist die enorme Faktenfülle, die vielen Personen, die vielen zeitlichen Ebenen. Man liest darüber hinweg, aber im Nachhinein verliert sich der Überblick und hinterlässt Verwirrung.
Romantik als Gegentrend zur rationalistischen Aufklärung
Klar hingegen wird, wie die Romantik, vor allem am Schaffen von Novalis aufgehängt, als Gegenspiel zur rationalistischen Aufklärung sich positioniert. Als subjektivistisch, intuitiv, unergründlich, von Gefühlen und Liebe geleitet. Während sich die Aufklärung und die in ihrem Schlepptau befindliche modernen Naturwissenschaften und Maschinentechnologien die Welt aufs Funktionalistische und ihre Atome reduzierte.
Vor allem ein gelegentlicher Gast in Jena, der Weltenreisende Alexander von Humboldt, übernahm in dieser Dualität eine Brückenbaufunktion. Der passionierte Naturwissenschaftler, der mit großer Inbrunst empirisch alles vermaß, kategorisierte und im Experiment neue Erkenntnisse suchte, war auch der Vertreter einer holistischen Weltsicht, nach der alles Leben auf dem Planeten und im Kosmos sich zu einem organisch-vernetzten Wesen fügte, eine Erkenntnis, die er auch aus seinen Reisen in Amerika und Kenntnis der indigenen Mentalitäten mitgebracht hatte. Die intelligente Synthese von Objektivismus und Subjektivismus, Rationalismus und Romantizismus, Materialismus und Idealismus.
Goethe war Anti-Demokrat – aber Verehrer Napoleons
In diesem intellektuellen Konglomerat gab es dann auch noch jemanden anders, Fichte, der sich an Kant abarbeitete und, sagen wir, dessen kategorischer Imperativ philosophisch herunterbrach und für den allgemeinen Gebrauch operationalisierte. Rund um diesen Prozess erfolgte die Ich-Werdung in einer revolutionären Zeit, in der auch die Armeen Napoleons Europa mit dem Geist der Französischen Revolution schwängerten, in Jena übrigens – auch das im besten Wortsinne fabelhaft beschrieben – wie die Barbaren hausten und wo Napoleon für eine Nacht in Goethes Bett schlief, der übrigens den Jenaer Kreis vor dem republikanischen Geist und Demokratie gewarnt hatte, Napoleon offensichtlich aber größte Ehrfurcht entgegenbrachte.
Was bleibt? Eine schöne Erinnerung an erlebnisreicher Lektüre, die auch die große Wortkunst unserer Altvorderen, in Poesie wie Philosophie ins Licht rückt, wissenschaftlich unterfüttert mit einem hundertseitigen Anhang. Dies ist nur eine große literarische, sondern auch wissenschaftliche Fleißarbeit, die alle Zitate und Wendungen akkurat belegt. Aber im Abgang insgesamt enttäuschend, ja verwirrend, weil hier mit zu vielen Strängen hantiert wird, der Hauptstrang dabei aber irgendwie untergeht. Und am Ende der Erkenntnisgewinn zu diesem Schlüsselthema eher schmal bleibt.
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