Goldminen für Laien-Forscher

by Wolfgang Goede | 20. August 2024 11:06

Ein wunderbares Vorbild auch für andere Metropolen: Der Rundgang durch seine Stadt mit Besuch an den Plaketten namhafter Menschen, die hier einst gelebt haben. München war mit Promis wie Einstein, Wagner, Spitzweg, Mann und so vielen anderen besonders begünstigt. Aber Größen aus Kultur und Wissenschaft lassen sich überall finden. Und wenn’s keine Erinnerungsschilder sind, dann ließen sich über die Namensgeber von Straßen Biografien, Storys, Narrative erarbeiten und deren Verbindung zur Ortsgeschichte.

Hallodris Wagner und Weber

Die Journalistin, Historikerin, Biografieexpertin Andrea Kästle hat in der bayerischen Landeshauptstadt von insgesamt 150 Gedenktafeln 60 herausgesucht und dazu kleine zwei- bis dreiseitige Texte geschrieben über das, „was Gedenktafeln der Stadt verschweigen“, so im Untertitel. Ihr Werk ist eine ebenso spannende wie kurzweilige Wissens-Kollektion geworden, deren Mosaikteilchen zwischen Tür und Angel leicht rezipierbar sind, abends vorm Einschlafen, im Bus, in der Bahn.

Bekannteres, wie etwa Einstein von seinen Lehrern geschurigelt wurde, mischt sich mit Unbekannterem, etwa dass nicht nur Wagner, sondern auch der seriöse Max Weber Hallodris waren und Lion Feuchtwanger Münchens „Gemütsfaschismus“ fürchtete mit „537.284 unternormal Veranlagten und 123.963 Vollsemiten“. „München leuchtete“ und einschränkend „nicht für jeden“ heißt das Schreibwerk, das auch in die nationalsozialistische Hauptstadt der Bewegung hineinleuchtet und wie Thomas Mann vergebens die Münchner aufzurütteln versuchte.

Wo sind die Frauen?

Was zweierlei deutlich macht: Es menschelt auch unter den Promis, die moralisch so einwandfrei auf ihren Sockeln zu ruhen scheinen; und auch Kultur und Wissenschaft arbeiten nie im politikfreien Raum, sondern sind darin eingebettet, mit sämtlichen Freiheiten wie auch Einschränkungen und Anpassungen. Diese Hintergründe, die im Schulunterricht meist unterbelichtet werden, leuchtet die Autorin aus. Zu Recht beklagt Kästle, dass es an Gedenktafeln für Frauen fehle. Von ihr selbst wünschte man sich ein ergänzendes Kapitel, nach welchen Kriterien Stadtparlamente und Stadtverwaltungen solche Ehrungen beschließen, wer die Inschriften formuliert, mit welchem Filter sie selbst die Tafeln ausgesucht hat und wie sie die Biografien über Wiki-Inhalte hinaus durchrecherchiert hat. Also insgesamt ein Schuss mehr Transparenz täte der Lesekost gut, wird aber bestimmt nicht von jeder und jedem vermisst.

Bleibt zu hoffen, dass Kästles Werk Schule machen möge. Schülerinnen und Schüler könnten in Leistungskursen in Geschichte ihre Orte auf Prominente etwa anhand von Straßennamen durchleuchten und dazu aus den Archiven Historisches ausgraben. Darunter auch jene pikanten Details, die eher vergessen worden sind oder bewusst aus politischen Gründen ausgespart werden. Die NS-Geschichte ist weiterhin vielfach unbearbeitet in Wirtschaft, Kultur, Sport, Religion. Gerade soeben erst wurden die Bahlsen Keksfabrik und der Deutsche Ruderverband DRV kritisch durchleuchtet – die NS-Geschichte der renommierten Frankfurter Germanen-Ruderer übrigens von einer Laien-Historikerin, auch Citizen Scientists genannt.

Vorbild für Schulunterricht

Das alles würde Menschen für Historie vermutlich mehr anspringen lassen als trockenes Bücherwissen mit den offensichtlich pädagogisch unverzichtbaren Jahreszahlenkolonnen. Und wenn wir schon mal am Gehirnstürmen sind. Empirisch erarbeitetes aktuelles Geschichtswissen ließe sich sogar auch für den Kunstunterricht aktivieren, in dem die zu Unterrichtenden über historische Persönlichkeiten vor Ort, Begegnungen mit ihnen, Konflikten und dergleichen sogar Comics zeichnen könnten.

Vieles mehr auch in anderen Fächern wäre denkbar. Ziert doch viele Bildungsanstalten, wie man dereinst sagte, immer noch eine andere Gedenktafel, mitunter sogar im vornehmen Latein „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“, was uns 62 n. Chr. der römische Philosoph Seneca mit auf den Weg gab.

Warum damit in den 2020ern nicht endlich mal ernst machen? Danke Kollegin Kästle für die anstiftende Aufmunterung hierzu!

Andrea Kästle: München leuchtete nicht für jeden. Was Gedenktafeln der Stadt verschweigen. Allitera Verlag München 2024

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