Die beiden Buchtitel, hier im Tandem besprochen, sind inhaltlich zwei Seiten derselben Münze. Eine in Afrika Geborene und dem Kontinent engstens Verbundende schreibt aus der Sicht von Afrikanern über die Historie des Erdteils. „Eine afrikanische Geschichte Afrikas“ ist so kunterbunt wie die Region, durchweg spannend erzählt, narrativ-historisch, und überrascht mit einer 3-fachen Perspektive des Kolonialismus: Europäer, Araber, die Afrikaner selbst, alle bedienten sich der Sklaverei. „Der Fluch der Muskatnuss“ eines indischen Autors hält die Lupe über den europäischen Kolonialismus in Asien und Amerika. Auch hier neue Erkenntnisse: Der vermeintlich hehre Geist der Aufklärung befeuerte ihn.
Das wird lesend nachempfindbar: die große Faszination Afrikas und die enorm große Diversität des Kontinents, wie die Autorin Zeinab Badawi als Auftakt zu ihrer Rundreise verspricht. Die hat sie in sieben Jahren durch etliche der 54 Nationen geführt. Dabei hat sie bei etlichen Gesprächen mit Wissenschaftlern und Amtsträgern ihre Recherchen vertieft, die zum großen Teil in einem UNESCO Projekt zur Erforschung der afrikanischen Geschichte durch Einheimische verankert sind. Das sorgt für Authentizität, wohingegen das allgemein gültige Afrikabild ein kolonialistisches ist aus dem Blickwinkel des weißen Europas. Viele Kolonialfiguren wie Cecil Rhodes sind heute samt ihrer Denkmäler umstritten.
Christen versklavten 10 Millionen,
Muslime 14 Millionen,
Afrikaner Millionen Afrikaner
Badawis Reise startet bei den Anfängen der Menschheit in Afrika und führt ins große alte Ägypten, das drei Jahrtausende blühte und bis heute voller Geheimnisse steckt. Licht in den Bau der Pyramiden vermag auch sie nicht zu werfen, außer der Spekulation, dass die gigantischen Bauwerke von freien Bürgern errichtet wurden, nicht von Sklaven. Die spielen in der Kultur des Kontinents eine große Rolle, stammte der Handel mit menschlichen Arbeitskräften doch von den afrikanischen Fürstentümern selbst, so wie Versklavung und Leibeigenschaft bis in die Neuzeit in fast allen Gebieten der Erde üblich war. Innerafrikanisch wurden Millionen von Einheimischen durch Einheimische versklavt, was dieses Buch ausführlicher hätte thematisieren müssen. Im großen kommerziellen Stil aber führten die Sklaverei erst die europäischen Kolonialherrn ein, Briten, Franzosen, Portugiesen, Niederländer, Belgier. Sie verschleppten von 1500 bis 1850 ca. zehn Millionen Menschen auf die Plantagen in den Amerikas.
Dies schildert die Autorin ausführlich, auch die Rolle der christlichen Kirche, unter deren Gotteshäusern das auf den Überseetransport wartende Menschengut oft untergebracht wurde. Die arabischen Völker standen den Europäern nicht nach. Sie transportieren ca. 14 Millionen Schwarzafrikaner über den Indischen Ozean nach Asien ab, wo ihr Schicksal allerdings weniger grausam verlief, sie oft in wichtigen häuslichen Funktionen Einsatz fanden. Die muslimische Sklavereihistorie, fordert die Autorin, verlangt nach weiterer Forschung und Aufklärung.
Badawis Reise fördert oft Erstaunliches zutage. Wie westafrikanische Potentaten im 14. Jahrhundert ein Vermögen von umgerechnet 400 Milliarden US Dollar ansammelten, wobei allerdings Quellen und Umstände nicht klar werden; wie grausam im Kongo die Belgier gegen die nativen Völker vorgingen, ihnen die Hand abschlugen, um mit diesem Nachweis ein Kopfgeld zu kassieren, ihre Opfer somit am Leben blieben und sie selber eine Patrone einsparten; wie im südlichen Afrika Kriegervölker große Imperien errichteten, sogar von Kriegerfrauen geführt, die in ihren Unterwerfungstaktiken, Ausschalten von Konkurrenten, Ermorden von Familienangehörigen nicht zimperlicher waren als die europäischen Dynastien.
Kleine Eiszeit
Folge des Kolonialismus?
Insofern ist die populäre Schwarz-Weiß Optik dem Buche fremd. Der Machttrieb entmenschlicht den Menschen ganz egal welcher Hautfarbe, Kultur, Religion – bis heute. Gibt es Auswege aus diesem Dilemma? Bleibt die Sehnsucht nach den „Besseren“, ohne sich in Totalitarismen zu verrennen, ein Traum? Zu fragen wäre auch, ob die seit ihrem sechsten Lebensjahr in England verwurzelte Autorin wirklich authentisch für Afrika sprechen kann und wie sie eine vieljährige Recherche über alle Teile des Kontinents und Interviews mit hochkarätigen Repräsentanten finanzierte. Hier fehlt Transparenz. Und wenn sie am Ende den „schlafenden Riesen“ in den Armen der Global-Süd BRICS-Staaten unter Führung Chinas (und Partnerschaft Russlands) sieht, ist eine solche Allianz aus der Kolonialgeschichte logisch, aber lauern darin nicht die modernen kolonialen Lassos, Abhängigkeiten, Grausamkeiten?
Afrikas Schicksal – auch in Asien und Amerika. Das ist der Tenor des in Kolkata (Kalkutta) Geborenen und in New York lebenden Amitav Ghosh in „Der Fluch der Muskatnuss“. Er rahmt seine eher literarische Expedition durch die Abgründe westlicher Kolonialherrschaft mit der Muskatnuss, die nur auf den indonesischen Banda Inseln wuchs, zum Verhängnis der dortigen Bevölkerung. Sie wurde von den Niederländern 1621 ausgelöscht, die damit das damals schier unendlich kostbare Gewürz unter ihre Obhut brachten. Das war der Start zu einem lukrativen Gewürzhandel, der dem kleinen Land Geldströme und den wirtschaftlichen Aufstieg bescherte, in dessen Kielwasser auch Kunst und Kultur bis heute gefeierte Höhepunkte erlebten.
Ausführlich geht der Autor auf seine amerikanische Wahlheimat ein und beschreibt, wie die Europäer sich die Urbevölkerung mit Genoziden und Ökoziden (= Omniziden) unterwarfen. Der Rückgang der Population bis zu 95 Prozent ließ landwirtschaftlich genutzte Flächen wieder zuwuchern, was einen umgekehrten Treibhauseffekt auslöste und zur Kleinen Eiszeit beitrug. Das ist zwar eher eine Hypothese, basiert aber auf einer Grundbefindlichkeit, dass Mensch, Natur, Atmosphäre, Klima engstens miteinander wechselwirken. Die drastischen Einschnitte in die Natur durch die Kolonialherrschaft nennt der Autor „biopolitische Kriege“ und „Terraforming“, umformen der Erde nach dem Geschmack der Eroberer.
Herrenmenschentum
angelegt in der Aufklärung
Den Keim dazu lieferte die Aufklärung, deren Vordenker im 16. Jahrhundert Sir Francis Bacon war. Er setzte auf Ratio und Wissenschaft, mit der sich der Natur alle ihre Geheimnisse entlocken ließen, notfalls durch die Folter, wie sie zum Erlangen von Geständnissen in den Hexenprozessen angewendet wurde. Sein mechanistisches Weltdenken schloss ein wohlgeordnetes und gottgefälliges Leben in der europäischen Zivilisation ein. Wer nach diesem Schema nicht lebte, war ein Wilder und verdiente nicht die Erdenbürgerschaft. So traten der Rassismus und der Missionierungswahn ins europäische Geistesleben und ins Christentum. Wer Widerstand leistete, verdiente ausgelöscht zu werden. So entstand der Herrenmenschenglaube schon lange vor dem 20. Jahrhundert, als die Nationalsozialisten ihn für sich entdeckten und damit ihre Ideologie fütterten, schreibt Ghosh.
Dieses Primat hat sich auch im extraktivistischen Kapitalismus niedergeschlagen, der danach fragen lässt, ob der Westen respektive Norden nicht einen kapitalen Systemfehler historisch, wissenschaftlich, aktuell in seiner Denke enthält. So etwa, wenn das karibische Haiti sich selbst aus der Sklaverei auslösen musste und seine Schuld an Frankreich erst kürzlich abtragen konnte, während es in Armut und politischen Turbulenzen versinkt. Die Französische Revolution hat zwei Gesichter. Nach lesenswerter Lektüre mit vielen Anstößen fällt auf, dass das Buch formal unvollständig ist, als ihm das Impressum und das Erscheinungsjahr fehlen (Originaltitel „The Nutmeg’s Curse“, 2021).
Sklaverei gab es schon immer. Im historischen Rom war Sklavenbesitz normal. Wer arm war, konnte sich nur einen einzigen Sklaven leisten, Reiche hatten bis zu 20 Sklaven.
Wahrscheinlich waren auch die landwirtschaftlichen Errungenschaften während der Neolithischen Revolution (vor 12.000 Jahren) nicht ohne Sklaven möglich. Um die ganze Feldarbeit zu schaffen und dabei auch noch reich zu werden, musste man andere Menschen halt besitzen.
Im 17. Jahrhundert haben Afrikaner ihre Sklaven auch aus Europa geholt. Z.B. fingen algerische „Piraten“ 1627 auf Island 300 Frauen und junge Männer, von denen die Isländer immerhin 100 zurückkaufen konnten. Sklavenjäger aus Algerier und Marokko bedienten sich an den Küsten Südeuropas. Jäger aus dem osmanischen Reich fingen sich im 15. Jahrhundert ihre Sklaven sogar in Kärnten und der Steiermark.
Und heute?
Rein statistisch lässt heute jeder Mensch in Europa, Nordamerika und Australien 60 bis 70 Sklaven für sich arbeiten (v.a. im Bergbau (Rohstoffe für Solarzellen, Magnete für Windkraftanlagen, Mobiltelefone, Sandbeschaffung für Bauten) und in der Herstellung von Kleidung (v.a. Ulta-Fast-Fashion)).
Völlig legal ist Sklaverei in Indien (Schuldknechtschaft) und in den USA (13th Änderung der US-Verfassung, Abschnitt I). Sklaverei wird in einigen US-Bundesstaaten nach wie vor praktiziert. Auch in Deutschland werden nach Schätzungen von Lawcode wahrscheinlich 47.000 Menschen als Sklaven gehalten.
Das soll den historischen Kolonialismus nicht weichspülen. Ich will nur darauf hinweisen, dass Kolonialismus und Sklaverei heute wahrscheinlich besser blühen und lukrativer sind als früher. Anstatt Bücher zur Geschichte von Kolonialismus und Sklaverei zu lesen und hier auch noch dafür zu werben, wäre es doch angebracht, die Zeit fürs Lesen stattdessen dafür zu spenden, die heutigen Versionen von Kolonialismus und Sklaverei zu bekämpfen. Lesen bildet — aber brauchen wir noch solche Bildung? Wir wissen genug, brauchen aber Engagement und „action“.