by Wolfgang Goede | 6. Juni 2025 08:19
Der Schöpfer des legendären Hundertjährigen der aus dem Fenster stieg und verschwand hat literarisch wieder zugeschlagen. Diesmal mit einer auch wissenschaftlichen Komponente. Nur, warum sollte es ihm anders ergehen als Nobelpreisträgern? Innovativen Spitzenleistungen folgt in der Regel selten Ebenbürtiges.
Endlich: Diese Kreativ-Quelle sprudelt weiter. Mit dem schrägen „Hundertjährigen“ hat Jonas Jonasson die Welt angefixt und seit 2009 eine Reihe weiterer ebenso skurriler wie fantasievoller Schreibwerke vorgelegt. Bei seinem letzten über den Schwarzbrenner Algot fühlt man sich jetzt auch wissenschaftlich eingenordet.
Soft Jui-Jitsu
Nicht nur schöngeistiger Klamauk: Der verliebte Schwarzbrenner und wie er die Welt sah ist eine mit Schaum auf der Feder verfasste Sozialkritik des Schwedens der Mitte des 19. Jahrhunderts, beherrscht von Aristokratie und Klerus, die die Landbevölkerung in einer Art Leibeigenschaft halten. Die Stürme der Revolution erreichen zwar auch das monarchische Skandinavien, peu á peu, doch statt auf die republikanisch sich langatmig anbahnenden Umbrüche zu warten, hilft nur Selbsthilfe, wenn man die Tyrannei des Systems überleben will, personifiziert durch den Grafen Bielkegren und seiner missratenen Familie.
Insofern ist dieses Buch auch eines der Ermächtigung, wie soziale Underdogs mit Schlagfertigkeit und Mutterwitz, gezielten Verstößen gegen die oft heuchlerischen Regeln das System, selbiges mit Soft Jui-Jitsu ins Straucheln bringen. Ein Plädoyer für Schelmereien und Narrenfreiheit, so wie dies Daniel Kehlmann so unvergleichlich brilliant in Tyll entwickelt, den Till Eulenspiegel des 17. Jahrhunderts, der mit Possen, Gaukelei, Witz den grausamen Dreißigjährigen Krieg austrickst und überlebt.
Sozialburleske
Der „Schwarzbrenner“ ist typisch „jonasson-esk“, gerahmt in eine Sozialburleske. Mit so herrlich absurden Dialogen, so abgefahrenen Charakteren, aber insgesamt ist der Plot eher stumpf. Nicht weil es an Kehrwenden fehlte, nur die Teile dazwischen sind oft zu lang, verlieren sich in den den Weiten der südschwedischen Ebenen, wo die Handlung rund um Växjö, des Autors Heimatstadt, sich entspinnt. Klassisch das Häppy End, wie der drangsalierte und in den Ruin getriebene Buchheld am Ende ins Schloss seines ehemaligen Verpächters und an sich selbst gescheiterten Grafen einzieht.
Durchaus lesenswert, auf 428 sehr übersichtlich und in angenehmer Schriftgröße gedruckten Seiten, die vielen Kapitel zum Durchatmen, mitunter nur drei Seiten lang, erleichtern das Durchatmen mit sehr viel unbedrucktem Weiß dazwischen (leider am Ende ohne Inhaltsverzeichnis).
Das Ding mit der Destille
Manchmal erscheint das beschriebene Ambiente zu modern für 1850, es fallen redundante Wiederholungen auf, auch mit der Logik nimmt es der Verfasser mitunter nicht so ganz genau, nämlich wie eine kleine Destille in kürzer Zeit eine ganze Pferdewagenladung Schnaps herstellen kann. Wer sich am Schnapsbrennen mal versucht hat, weiß, dass die Technik und Rundum-Aufwand sowie der Energieverbrauch weniger kein ist, als der Text glauben lässt.
Zur Lese-Ökonomie: Am Ende des Tages hat der Rezensent in einem Zuge in ca. 200 Minuten 243 Seiten gelesen, die Mitte übersprungen, dann in einem Zweitanlauf ab 397 den Rest rezipiert.
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