by Wolfgang Goede | 2. August 2021 19:04
Nazi-Tier-Mythen—Kästner & Göpel—Untergang des Abendkleides.
Kritische Rückblicke–hoffende Ausblicke–mit Humor-Spritzerchen.
Das arischste aller Tiere war den Nazis der Schäferhund. Der war zwar erst im 19. Jahrhundert gezüchtet worden, doch Wissenschaft war den Parteibonzen völlig schnuppe. Die Verbindung zum Urhund wurde einfach erfunden und fortan galt der Vierbeiner in seiner Treue und Gehorsamkeit als die biologische Züchtungsnorm schlechthin. So hätte Hitler, Besitzer mehrerer Schäferhunde, gerne seine Volksgenossen gehabt. Im Lebensborn waren Biologen und Pädagogen ernsthaft überzeugt, eine solche Menschenrasse für die künftige arische Weltherrschaft hervorbringen zu können.
Der braune Kräuterlikör mit dem röhrenden Hirsch auf der Flasche ist in vielen Ländern der Welt ein beliebter Trunk, in Schweden etwa der absolute Party-Hit und in Kolumbien fehlt er in keinem Supermarkt (fast so berühmt wie der „völkische“ Volkswagen). Er wurde im Dritten Reich von einem kurz vor der Pleite stehenden Essigfabrikanten erfunden. Der Name war eine Hommage an den obersten Jäger Nazi-Deutschlands, Reichsjägermeister Göring, umwarb seine gesamte Gefolgschaft im grünen Rock und ihre Lust auf möglichst gewaltige Hirschgeweihe, dazu alle Deutsche, die in ihrer Wohnstube ein Hirschgemälde an der Wand hängen hatten, wie der gute Ton es wollte.
Das Hausschwein sollte die wirtschaftliche Unabhängigkeit und Versorgung im Kriege sichern und wurde fast vergöttert, während der angeblich unverzichtbare Lebensraum im Osten noch erobert wurde. Im dessen Schlamm und Morast versagten Autos und Panzer und nur das Pferd zog das Kriegsgerät voran. 750 000 Pferde wurden an die Ostfront verbracht. In Stalingrad und später auch in Berlin klaubten sich Verhungernde Fleischstücke aus sterbenden Pferden. Am Ende verloren die Nazis auch gegen das slawische Panje Pferd. Es erwies sich als erheblich robuster als das deutsche Pferd. Nach Einmarsch der Roten Armee wimmelte Berlin von den ponygroßen Tieren.
Aber: Mit der Kleiderlaus wehrten sich KZ-Häftlinge gegen ihre Schergen. Eine KZ-Überlebende berichtete, wie Insassen in den Wäschereien die kleinen Tierchen von der Kleidung der Toten sammelten und sie unter die Kragen des Wachpersonals schmuggelten. Das in der Hoffnung, dass sie das Personal mit Typhus und Fleckfieber ansteckten. Denn Läuse, so die Frau, waren schließlich frei von rassistischen Vorurteilen.
Tiere im Nationalsozialismus liest sich so spannend wie ein guter Roman, ist gut recherchiert, mit vielen wissenschaftlichen Quellen belegt, ebenso erhellend wie nachdenklich stimmend: Die Perfektion der Nazis bei der praktischen Umsetzung ihrer Ideologie und wie sie selbst Tiere für ihren Wahn einspannten. Wehret allen autokratischen Anfängen!
Jan Mohnhaupt
Tiere im Nationalsozialismus
Hanser 2020, 22 €
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/tiere-im-nationalsozialismus/978-3-446-26404-5/
1930 veröffentlichte Erich Kästner über den Ersten Weltkrieg ein Gedicht, das so begann und so endet:
„Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,
mit Wogenprall und Sturmgebraus,
dann wäre Deutschland nicht zu retten
und gliche einem Irrenhaus.“
„Dann läge die Vernunft in Ketten,
und stünde stündlich vor Gericht.
Und Kriege gäb’s wie Operetten.
Wenn wir den Krieg gewonnen hätten –
zum Glück gewannen wir ihn nicht!“
Diese Reime brachten dem Freidenker den Hass der Nazis ein. Als unerwünschter Schriftsteller setzten sie ihn auf die schwarze Liste, der in Deutschland nicht mehr publizieren durfte. Doch Kästner emigrierte nicht, sondern er blieb. Er durchlebte den Nationalsozialismus und Krieg und war deren scharfer Beobachter.
„Die Zeit ist kaputt“ ist voller Erlebnisse und Anekdoten aus dieser Zeit und lassen Leser*innen diese schwierigen Jahre nacherleben, nicht als Soldat an der Front, sondern Zivilist an der „Heimatfront“, in der Kästner-Person, Affronts, Bespitzelungen, drohender KZ Haft ausgesetzt. Sein Bleiben wurde ihm später bei der Entnazifizierung als Opportunismus vorgeworfen.
Selbigen lebten die Nazis vor, die den hochauflagigen Kästner im Ausland weiter publizieren ließen, um an die spärlich fließenden Devisen zu gelangen. Dem Ansinnen der Reichsschrifttumskammer an ihn, in der Schweiz eine Emigrantenzeitschrift herauszugeben, die andere Emigrantenpublikationen bekämpfen sollte, verweigerte er sich – mutig, denn das brachte ihm noch mehr Feinde bei den Nazis ein.
Über die Verfehlungen Nazi-Deutschlands und vieler seiner Bürger hat Kästner auch nach 1945 nicht geschwiegen. Gleichwohl auch er nur ein Mensch war und in seiner Beziehung zu Frauen, seiner Familie, seinem eher verschwiegenen Sohn beileibe kein „Säulenheiliger“ war, insgesamt eher vielleicht ein Moralist. Vielen bleibt er nicht wegen seines vorbildlich standhaften Glaubens an Demokratie, Recht und Anstand unauslöschlich ins Gedächtnis geritzt, sondern wegen seiner unvergesslichen Kinderbücher, darunter „Emil und die Detektive“ (1929). Auch darin siegten der Mensch und das Gute.
Klaus Kordon
Die Zeit ist kaputt
Die Lebensgeschichte des Erich Kästner
Gulliver 2019, 9,95 €
Als weiteren Beitrag über die deutsche NS Vergangenheit (die die Journalistenvereinigung in „Am Anfang war die TELI“ in den Nuller-Jahren am Beispiel der eigenen Organisation, der Wissenschaft und des Journalismus kritisch aufgearbeitet hat https://www.teli.de/am-anfang-war-die-teli/) verweisen wir auf das bereits besprochene Buch „Einsatz über den Wolken“. Wie ein Jagdflieger die Zeit des Nationalsozialismus und den Krieg erlebte und wie er sie später in Südamerika reflektierte. Regional-lokale sowie auch Familienforschung können diese Zeit weiter aufhellen. https://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=6418 Der deutsche Sport ist ein weitere mächtige Bastion, der sich seiner braunen Vergangenheit nur zögerlich stellt https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-deutsche-rudersport-ist-kampfbereit – insgesamt noch viel Arbeit für Forschung, Publizistik, Journalistik. Mögen diese Beispiele Mut machen, Deutschlands weithin unbewältigte Zeit unter dem Hakenkreuz auszuleuchten.
Doch: Genau so wichtig ist der forscherisch-journalistische Blick in die Zukunft, die Vielen ebenso verhangen erscheint wie die Vergangenheit.
In seiner fibelartigen Sammlung von Essays „Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter“ setzt sich der Politikwissenschaftler Meinhard Miegel mit dem Raubbau des Menschen am Planeten Erde auseinander. In der derzeitigen Weltklimasituation mit zunehmenden Anomalien rät er zum „Voranschreiten durch Innehalten“. Das für das Öko-Chaos verantwortliche Wirtschaftssystem mit seinem immer Weiter-Schneller-Höher sei eine trügerische „Fata Morgana“, die sich beim Näherkommen ins Nichts auflöse. Miegel plädiert für die Selbstverantwortung des Bürgers, der doch nicht alle Verantwortung auf Staat und Politik abschieben möge.
Das hat er mit der Politologin Linda Sauer (TUM) in „Zeitenwende?“ gemein. Doch sie greift weiter, rhetorisch wie inhaltlich. Möge ihr Appell vielen, gerade denen, die an den wirtschaftlich-politischen Schalthebeln sitzen, in den Ohren hallen: „Die Hybris der Menschen, sich überall selbst in den Mittelpunkt der Umlaufbahn zu setzen“ und sich als alleinigen ‚Herrn des Seins‘ zu wähnen“ sei ein „kosmologisches Verhängnis“.
Nicht zu übersehen in dieser Formulierung ist der Gender-Twist: In den hauptsächlich patriarchalischen Gesellschaften der zivilisatorischen Geschichte hatten hauptsächlich Männer das Sagen. Was hätten Frauen anders gemacht, was würden sie anders machen? Haben sie die Kraft und Vision, für die Post Corona Zeit das vielfach geforderte „Neue Normal“ einzubringen? Mit diesem Thema und dem Aufbruch in eine neue Phase der Epoche der Aufklärung sowie geistigen Reserven dafür in Bürgergesellschaft und Bürgerwissenschaft setzt sich das Working Paper „Reset“ des zivilgesellschaftlichen Think Tanks Maecenata auseinander.
https://www.maecenata.eu/2021/06/21/systemischer-reset-jetzt-20-einwuerfe-zu-zivilgesellschaft-und-buergerwissenschaft/
Meinhard Miegel
Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter.
Verantwortung in Krisenzeiten
oekom München 2020, 18 €
https://www.oekom.de/buch/das-system-ist-am-ende-das-leben-geht-weiter-9783962382087
Franz-Theo Gottwald, Peter-Cornelius Mayer-Tasch, Linda Sauer (Hg.)
Zeitenwende? Zur Dialektik von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit
Metropolis 2020, 19,80 €
https://www.metropolis-verlag.de/Zeitenwende%3F/1445/book.do
Zum gleichen Thema, Umbau der Welt, meldet sich die Nachhaltigkeitswissenschaftlerin Maja Göpel mit „Unsere Welt neu denken“ zu Wort. Sie stellt die These auf, dass wir Menschen uns weigern, die neue ökologische Realität zu begreifen. Aber ist das nicht mehr eine Binsenweisheit, seit Jahren das mittlerweile fast endlose Zeitgespräch? Bei den Wirtschaftslenkern anscheinend immer noch nicht angekommen!
Die Probleme der heutigen Welt macht Göpel an der Kaltherzigkeit der Ökonomie (die die heutige Professorin einst zur Doktorarbeit inspirierte) und dem Egoismus Adam Smith’scher Wirtschafts-Ideologie fest. Sie verdonnerten Manager*innen börsennotierter Unternehmen zu „Soziopathen“, schreibt sie. Das trügerische BIP und seine Fallgruben, Kostenexternalisierung, die Widersprüche zwischen ökonomischer und gesellschaftlicher Wertschöpfung trügen weiterhin zur Schieflage der Welt bei.
Keiner, auch Göpel nicht, hat es bisher gewagt, dies auszusprechen: Hat diese Wirtschaftsideologie, der wir uns alle, mehr oder weniger, hingegen, nicht etwas Apokalyptisches, Auto-Terroristisches?
Die Autorin stimmt mit vielen anderen überein, dass der Planet sich nur mit weniger Wachstum retten lasse. Was im Klartext heißt, dass der globale Norden dem globalen Süden sein Wachstum schenken und dafür ein Minus in Kauf nehmen müsste. Moralpolitisch ein Go, aber machtpolitisch ein No-No.
Göpels Abschlussappell: Jeder muss mithelfen, die Boxen umzubauen, dabei das Lachen nicht vergessen, die Summe des Ganzen ist mehr als seine Teile. Sehr sympathisch, auch der kolloquiale Schreibstil, fast dialogisch mit den Lesenden, die hilfreichen und kurzen Resümees nach jedem Kapitel, wo aber liegt der Erkenntnis-Mehrwert … aber dennoch hoffentlich Nachhilfe für Manager*innen.
Maja Göpel
Unsere Welt neu denken. Eine Einladung
Ullstein 2020, 17,99 €
https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/unsere-welt-neu-denken-9783550200793.html
Die Titanic Redakteurin Ella Carina Werner lässt’s krachen. Der Untergang des Abendlandes ist nur der des Abendkleides. Mit vielen kleinen Geschichtchen rund um die Frau über 30, mit Gender-Sottisen und Sex-Anspielungen. Ein ausgesprochen amüsantes Buch, als Betthupferl auf dem Nachtkästchen zu empfehlen, jeden Abend vorm Einschlafen eine Story und Morpheus wird einen mit großer Heiterkeit ins Reich unbeschwerter Träume entführen.
Hier nur ein Beispiel über die Imagination dieser Frau. Bei der Frage, welches Tier sie am liebsten wäre, schwankt sie zwischen Krake und Eintagsfliege. Acht Arme wären beim Musizieren hilfreich, sechshändig Tschaikowski klimpern und sich selbst per Cello begleiten. Oder Sex haben und gleichzeitig die Wäsche im Schrank sortieren, Traum jeder Hausfrau. Bei Traurigkeit sich ein paar Arme um die Schultern legen oder sich aus den Armen bei Bedarf ein Strick knoten. „Bei Familienfesten würde ich alle gleichzeitig umarmen, dann ist es schneller vorbei.“ Noch attraktiver die Eintagsfliege! Sie hätte den Vorteil, dass der Zwang zur Selbstoptimierung wegfiele, keine Entscheidungen mehr zu treffen wären: „Ein Leben wie in der DDR.“ Ella Carina würde fliegen und warten: „Auf den Tod.“ Den ganzen Tag leben, „als wenn es mein letzter wäre“.
Schade, liebe Frau Werner, dass wir nicht früher auf Sie gestoßen sind. Dann hätten die TELIaner*innen Sie nämlich gebeten, „Kann Wissenschaft witzig?“ https://www.springer.com/de/book/9783662615812 ein Werner-Krönchen aufzusetzen. Wissenschaft und Forschung sowie die Kommunikation darüber hätten ein solches bitter nötig. Und das meinen wir wirklich todernst.
Ella Carina Werner
Der Untergang des Abendkleides.
Geschichten
Satyr 2020, 18 €
https://satyr-verlag.de/wp-content/uploads/2020/06/Infotext_Abendkleid.pdf
Und wie sehen Sie alle jetzt die Zukunft? Vom legendären Münchner Humoristen Karl Valentin stammt: „Die Zukunft war früher auch besser“. Das ließe sich bequem toppen.
Einen sehr heiteren Sommer mit viel gedeihlicher Lektüre wünscht Ihnen Ihre TELI!
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