Erste Live Debatte baut Brücke von der Forschung zur Politik

by Wolfgang Goede | 31. Juli 2013 21:25

Die erste Live TELI Wissenschaftsdebatte führte ein neues Modell in die Diskussionskultur ein. Sie baute eine Brücke zwischen Forschung und Politik. Bisher tun sich Wissenschaftler schwer, sich auf die politische Bühne zu begeben. Forschung im politikfreien Raum ist aber unmöglich. Wie die Debatte zeigte, konnte die Vertreterin der Wissenschaft wichtige Eckpunkte der Politik abstecken. Das war das erste Novum. Auch der Vertreter der Zivilgesellschaft brachte weitreichende, zum Teil unbequeme Erkenntnisse in die Debatte ein, an dem die Volksvertreter nicht vorbei kamen. Der Moderation gelang es, als wichtiges drittes Element dieses Formats, mit den Bürgern und Wählern einen interaktiven Austausch zwischen Auditorium und Podium herzustellen. Ein vierter wichtiger Punkt ist, dass die TELI Wissenschaftsdebatte Journalisten ein neues Betätigungsfeld bietet. Über den TELI Jour-fixe am 30. Juli 2013 mit dem Thema „Länger leben, flexibler arbeiten – mit Absturz in die Altersarmut“ im internationalen PresseClub München berichtet Arno Kral, der neugewählte Vorsitzende der TELI Süd.

[Zum Dossier der Live-Debatte]


Zum Auftakt präsentierte die Moderatorin und Mitveranstalterin Maren Schüpphaus, Science Dialogue & Netzwerk Gemeinsinn, die eingeladenen Politiker der Parteien CSU, SPD, FDP, Bündnis90/Grüne, Die Linke, Piraten, darunter drei Bundestagsabgeordnete (MdBs) mit folgenden Leitfragen:

    • Sind wir – Gesellschaft und Politik – auf die Herausforderungen des demographischen Wandels vorbereitet?
    • Welche Probleme und Handlungsbedarfe sind erkannt?
    • Welche Lösungsansätze und –konzepte gibt es bereits bzw. werden benötigt?

Es folgte die Präsentation der Max-Planck-Forschungsergebnisse von Frau Dr. Michela Coppola vom Munich Center for the Economics of Aging, denen zur Folge die Gesamtbevölkerung Deutschlands NICHT schrumpfen, wohl aber im Durchschnitt älter werde.

Ihre erste Kernfrage, ob Menschen länger arbeiten SOLLTEN, habe die Wissenschaft mit „Ja“ beantwortet.

Ihre zweite Kernfrage, ob Menschenlänger arbeiten KÖNNTEN, habe die Wissenschaft ebenfalls mit „Ja“ beantwortet, weil die Menschen inzwischen länger gesund blieben. Das hätten Studien in der Schweiz und in Dänemark belegt, Ländern, in denen Menschen durchschnittlich zwei Jahre länger arbeiteten als im demographisch durchaus vergleichbaren Deutschland.

Ebenso heißt die Antwort der Wissenschaft auf die Frage, ob Menschen länger Arbeiten DÜRFTEN: „Ja“.
Denn Ältere würden, insbesondere in Ausnahmefällen, ihre gesunkene Leistungsfähigkeit durch ihren Erfahrungsschatz kompensieren. Außerdem seien Teams, bestehend aus alten und jungen Menschen, produktiver und würden bessere Ergebnisse erzielen als Teams aus Gleichaltrigen.

Einzig die Frage, ob Menschen länger arbeiten MÜSSTEN, habe die Wissenschaft mit einem klaren „Nein“ beantwortet. Jeder Mensch müsse für sich selbst entscheiden, wann er aus dem Arbeitsleben ausscheiden wolle. Bei der Entscheidung müsse aber auch die Konsequenzen klar sein: Wer weniger lang arbeite, müsse sich mit weniger [Rente] bescheiden. Die Forschungsergebnisse zeigten, dass Maßnahmen wie eine Erhöhung des Renten-Eintritts-Alters, der wegen G8 um ein Jahr frühere Eintritt ins Berufsleben oder eine Mehrbeschäftigung von Frauen, keine wesentlichen demographischen Effekte erzielten.

Den zweiten Impuls zur Wissenschaftsdebatte lieferte Otto Teufel vom eingetragenen Verein „Aktion Demokratische Gemeinschaft“ (ADG). Sein kämpferischer und mit stichhaltigem Zahlenmaterial untermauerter Vortrag gipfelte in der Feststellung, dass es in unserem Lande kein Demographie-, sondern lediglich ein Verteilungsproblem gebe. Das demographische Problem sei eine Erfindung der Versicherungswirtschaft. Ferner sei Deutschland der einzige Staat in Europa, der verschiedene Rentensysteme habe. In allen anderen EU-Ländern seien die Menschen pflicht-versichert.

Er beklagte das hierzulande politisch offenbar gewollte Fehlen der Gleichheit, des Eigentumsschutzes und des Rechtstaatlichkeitsprinzips. So habe sich das Rentenniveau seit dem Jahr 1977 halbiert. Und weil §14 des Grundgesetzes (Eigentumsschutz) nicht für Rentner gelte, profitierten Politiker, Beamte und Richter von einer riesigen Umverteilung. Ergo existiere in Deutschland ein Zweiklassen-System ebenso wie ein Zwei-Klassen-Recht in der Altersversorgung.

Ganz im Sinne des von der Live Wissenschaftsdebatte kreierten, neuen Formats „Demokratie Plus“ gestaltete Frau Schüpphaus den TELI-Jour-fixe dialogischer und interaktiver als gewöhnlich. Sie forderte das rund 40-köpfige Auditorium auf, in kleinen Murmel-Gruppen Fragen an die auf dem Podium vertretenen Politiker zu formulieren. Dort saßen: SPD – Roland Fischer, CSU – Max Straubinger, Bündnis 90/Die Grünen – Dieter Janecek, FDP – Dr. Daniel Volk, Linke – Klaus Ernst, Piraten – Alexander Bock
Einige der von den Kleingruppen formulierten Fragen:

Bedient sich der Staat an den Rentenkassen – was lässt sich dagegen machen?
Ist eine europaweite Anpassung und Vereinheitlichung des Rentensystems nötig?
Was lässt sich gegen das Aussortieren der Älteren aus dem Erwerbsprozess machen?
Welche Probleme gibt es, wenn Arbeitnehmer länger und über die Altersgrenze hinaus arbeiten wollen?
Wie wirkt sich das stagnierende Lohnniveau auf das Rentensystem aus?
Müssten Rentenkassen nicht mehr in Vorsorge der Versicherten investieren?
Müssen Politiker nicht zur eigenen Alterssicherung beitragen?
Auch Beamte sind privilegiert – was ist von den Urteilen der verbeamteten Richter des Bundesverfassungsgerichts zu halten?
Wer hat die Kontrolle über Renten und Wirtschaft, Politik oder Konzerne und Banken?

Anschließend hatten die anwesenden Politiker, unter ihnen leider keine einzige Frau, Gelegenheit, in jeweils fünfminütigen Statements auf die Fragen der beiden Impuls-Geber und des Auditoriums einzugehen. Im Wesentlichen fokussierten die Redner auf die Rentenproblematik. Bis auf die Vertreter von FDP und die CSU plädierten alle anwesenden Politiker für eine Bürgerversicherung (in SDP-Diktion „Erwerbstätigenversicherung“), in die ausnahmslos alle Berufstätigen, insbesondere alle Mandatsträger, einzahlen sollten.

Die CSU bleibt das bisherige Drei-Säulen-System aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Alternsvorsorge aber das Grundgerüst für die Lebenssicherung im Alter. Vom bisherigen Umlageverfahren solle man sich nicht entfernen, weil dort das Rentenniveau im Gegensatz zu angelsächsischen, kapitalbasierten Systemen 20 bis 30 Prozent höher liege.

Keine Überraschung war, dass der FDP-Vertreter für ein solches kapitalbasiertes System plädierte. Denn gesetzliche Versicherungs-Systeme bürgen immer die Gefahr, dass sich die Politik, etwa zur Finanzierung versicherungsfremder Leistungen, daran vergreife [700 Milliarden waren beispielsweise der Rentenversicherung für den schweren Aufbau Ost entnommen worden]. Von den drei Säulen sei aus FDP-Sicht die private Altersversorgung am wenigsten anfällig gegen Eingriffe durch die Politik.

Für die Grünen wird die Umverteilung von Arbeit wichtig werden, weil höhere Geburtenraten nicht entwickelbar seien. Sie geben zu, dass sie immer noch eine Kapitaldeckung wollten, räumen aber ein, dass deutsche Anlagen europaweit die schlechtesten Renditen hätten. Deshalb fordern auch sie eine Grundsicherung gegen Armut in Form einer Bürgerversicherung, wobei der Umlageteil bleiben solle.

Die Linke hingegen will eine Bürgerversicherung für ALLE, auch für Abgeordnete, fordert eine Grundsicherung von 1050 statt 850 Euro pro Monat.
Klaus Ernst gab Otto Teufel in seiner Darstellung Recht, dass Deutschland kein demographisches, sondern ein Verteilungsproblem habe. So sei das Bruttoinlandsprodukt real von 2000 bis 2012 um 14 Prozent gewachsen, während im gleichen im Zeitraum die Löhne um zwei und die Renten im Westen um 20 und im Osten um 25 Prozent gesunken seien. Pointiert argumentierte Ernst (unter dem Applaus der Mehrheit der Anwesenden), dass diese faktische Rentenkürzung die Menschen in die private Rentenversicherung treiben solle. Dagegen setzt er das schlichte, aber treffende Argument: Bessere Löhne – bessere Rente. Demokratie ist für ihn, wenn sich die Interessen der Allgemeinheit durchsetzten.

Der Vertreter der Piratenpartei, Alexander Bock, argumentiert vergleichbar: Er fordert Solidarität von allen Bürgern, ALLE sollten einzahlen, Unternehmer, Arbeiter, Angestellte, Politiker und Beamte. Er gibt zu bedenken dass mehr Beiträge auch durch mehr Produktivität kämen. Das kommt einem Plädoyer für mehr Bildung gleich. Auch die Beschleunigung von Patentverfahren könne dramatisch zu höherer Produktivität beitragen. Das Problem, dass sich der Staat an den Kassen bediene, will er durch deren Selbstverwaltung gelöst sehen, wie sie auch für Instanzen wie die Bundesbank vorgesehen sei. Die Verwaltung der Kassen vereinfache sich dann, wenn es auch einen negativen Einkommenssteuersatz gebe. Um derlei durchzusetzen, plädiert Bock für mehr direkte Demokratie – bis hin zu Volkentscheiden auf Bundesebene.

Hiermit endet Krals Bericht. Ein Video sowie die einzelnen Präsentationen werden diese Darstellung erweitern. Daraus erstellen wir eine Pressemitteilung, die wir an die Medien weiterreichen. Mit dieser Verdichtung erreicht die Wissenschaftsdebatte ein höheres Niveau und hält den Ball in den Medien, der Politik, Forschung und Zivilgesellschaft am Rollen.

VERANSTALTUNGS-DOSSIER

Ablaufplanung Ablaufplanung Wissenschaftsdebatte.akt.neu
Einführung Wissenschaftsdebatte Text Goede Intro Wiss-Deb.LIVE Demografie
Einführung Wissenschaftsdebatte Powerpoint Goede
Wissenschaftsdebatte titel-Folie (1)
Wissenschafts-Impuls Dr. Coppola Coppola_TELI_Wissenschaftsdebatte
NGO-Impuls Otto W. Teiufel, ADG Vortragsmanuskript OWT – 130730
Offizielle Aussagen der Parteien zu Renten/Demografie Aussagen im Bundestagswahlprogramm zum Thema Rente_end (2)
WEITERE HINTERGRUNDARTIKEL
ANKÜNDIGUNG Live Debatte >>> https://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=3512
GESELLSCHAFT VERJÜNGT SICH — PENSIONIERUNG GEHÖRT ABGESCHAFFT https://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=3353
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Plädoyer für ewige Jugend: Bleiben Sie neugierighttps://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=3048

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