Zum Auftakt des 2022 TELI Sommerbücher Zyklus: Die Entstehungsgeschichte eines Jahrhundertbuches, „Die Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor Adorno, ist ein spannendes Leseabenteuer. Die 273 Seiten waren in anderthalb Tagen gelesen. Mit über hundert Anstreichungen und Anmerkungen und am Ende 20 rosaroten Einmerkern auf den Seiten für die inhaltliche Essenz.
Ein Parforceritt durch die abendländische Kulturgeschichte in dem Versuch der Autoren, ihre Fragezeichen zu einer Gesamtschau zusammenzuführen. Das in ihrer Eigenschaft als jüdische Exilanten unter den Palmen von Pacific Palisades, Los Angeles, mit Blick auf den Nazi-Terror, der Judenvernichtung, den Moskauer Schauprozessen Stalins – Zeugen und Zuschauer eines Weltuntergangs. Trotzdem bleiben Horkheimer und Adorno Marxisten, ohne parteipolitisch Kommunisten zu sein, was sie vor den US-Behörden verbergen müssen. Ein Spagat!
„Freiheit und Finsternis“-Autor Martin Mittelmeier zitiert ausführlich aus der Dialektik und begleitenden Texten und versucht die Genese des Werkes zusammenzuführen, über sehr lange und komplizierte Sätze der Autoren hinweg, deren jahrelanges Tüfteln darüber und was in der europäischen Aufklärung falsch gelaufen sein könnte. Dabei geraten Mittelmeier selbst einige seiner Sätze zu Bandwürmern und Schachtelsätzen, wie den Herren im Exil. Der Stil würde leichter, wenn er das Verb nicht so altväterlich ans Satzende setzte. In den 2030er Jahren haben wir anders als vor hundert Jahren sprachliche Freiheiten. Nichtsdestotrotz gelingt es dem Autor, die schwere Kost immer wieder mit Anektdötchen aufzulockern, zusätzlich durch eigene kreativ-beeindruckende Sprachbilder.
Die Kapitelüberschriften sind eine reine Wonne, etwa: „Liebe ist … wenn er ihr seine Affären diktiert“, Untertitel: „Philemon und Baucis am Pazifik“. Ja, die Herren waren nicht nur stets mit Anzug und Schlips gekleidete Vertreter des höheren Bürgertums, so wie Engels Söhne wohlhabender Fabrikanten, die im Protest gegen Kapitalismus und Ausbeutung der Arbeiter eigene denkerische Wege gingen und Marx als Leitfigur entdeckten. Sie waren auch Machos, für die ihre Frauen als Sekretärinnen und Chauffeusen agierten, mit mehr oder weniger offenen, zum Teil verschrobenen, von Eifersüchteleien umtriebenen Affären.
Mittelmeier serviert ein Menü, bei dem es bei aller wissenschaftlich-abstrakten Tiefe nicht weniger tief menschelt. Beim Knacken des Pudels Kern, wie Faust gesagt hätte, der Suche nach Lösungen der sozial-menschlich-staatlichen Dilemmata, zwischen mörderischem Faschismus und Bolschewismus sowie dem US-amerikanischen Monopolkapitalismus (heute würden wir ihn vielleicht durch den ressourcenfressenden und klimaschädigenden Konsumkapitalismus des gesamten Globalen Nordens ersetzen) deuten sich zwei Konzepte an. Ablehnung von Bacons Dogma, dem Leitvektor unserer modernen Zivilisation, dass der Mensch sich die Natur untertan mache mit Hilfe der Wissenschaft und Öffnung seiner Doktrin zugunsten eines gesamtnaturhaften Kreislaufes. Dies insbesondere mit Blick auf die seinerzeit neue, heute gesetzten Quantenmechanik und Psychoanalyse, die wissenschaftlich erstmals das Kausalprinzip erschütterten, auf dem alle neuzeitliche Forschung fußt.
Und zweitens durch das dialektische Prinzip, dass der Mensch die Hölle durchschreiten muss, um zum Himmel zu gelangen, dass beides möglicherweise ineinanderfällt und erst in diesem Zustand neue denkerisch-wissenschaftlich-humane Dimensionen öffnet. Gleichwohl sei bemerkt, dass Mittermeiers Andeutungen zufolge die renommierten Schöpfer des weltberühmten Werkes nur unvollständig durchdrangen und am Ende einen Torso hinterließen.
Was fehlt, wäre eine überblickartige Synopse über Ist-Stand und Fehl-Stand des Oeuvres, um aus der tastenden Verwirrung herauszufinden. Aber vielleicht ist der Autor selbst Opfer derselben geworden. Tragisch für die gutbürgerlichen Revoluzzer, dass sie am Ende von den 68ern nicht mehr ernst genommen wurden und von ihnen mit Spott praktisch zu Grabe getragen wurden. Gleichwohl ihre Leitfigur Dutschke und seine ihm Folgenden viele Anleihen bei der Horkheimer-Adorno-Rhetorik gemacht hatten. Sie bleibt streckenweise allerdings so wenig verständlich wie die Agitation 1969 in der Aula der Kieler Humboldt Schule zur Eröffnung des großen Schüler- und Studierenden-Streiks.
Die Essenz in vier Sätzen: Dem Autor gelingt eine schwierige Theorie transparenter zu machen, über weite Strecken mit fesselnder Lektüre. Die vielen Quellen, die er dazu ausgräbt, nötigt Bewunderung ab. Was fehlt, ist ein Bild davon, was genau das Anliegen von Horkheimer und Adorno war, welches man nur erahnt im Sinne einer kritischen Gesamtschau der Wissenschaft ihrer Zeit am Rande der Katastrophe. Das wäre heute wichtiger denn je und vielleicht ist „Freiheit und Finsternis“ ein Anlass für ein heutiges Autorenteam, das Rad weiterzudrehen und upzudaten. Es wäre höchste Zeit dafür.
PS: Die Titelaufmachung dieses wichtigen Buches als Visitenkarte und Türöffner ist inadäquat, kein Glanzstück der Verlagsgrafik, die in Schwärze versumpften Palmen Südkaliforniens, ein Trauergebinde ohne Freiheitsverheißung, nur auf dritten Blick als solche erkennbar.
Martin Mittelmeier
Freiheit und Finsternis
Wie die „Dialektik der Aufklärung“ zum Jahrhundertbuch wurde
Siedler München 2021