Das Schlagwort unserer Tage war das Thema von Radio Lora Wissenschaft Kontrovers im September 2022. ZEITENWENDE: Könnten philosophisch-weltanschauliche Konzepte aus dem Globalen Süden den Globalen Norden aus der Klima-Energie-Friedensklemme helfen?
Das Moderatorenteam Günter Löffelmann mit Lisa Popp befragte dazu Wolfgang Goede und dessen Arbeitspapier FALLING WALLS, wie sich die Nord-Süd-Barrieren überbrücken, sich „das Beste beider Welten“ (Löffelmann) miteinander verflechten ließen. Aus dem Gespräch, im Detail nachhörbar unter diesem Audio-Link, lassen sich sechs Impulse ableiten.
Kooperation statt Wettbewerb, mehr Gemeinsinn und weniger Individualismus/Egoismus. Darauf beruhten indigene Kulturen, vor allem die der Amerikas, im Norden wie im Süden des Kontinents. Hiervon könnte der hochindividualisierte Norden lernen, auch mit Blick auf Darwin, für den Kooperation in der Natur praktisch gleichbedeutend mit Evolution war.
Familiensolidarität und weniger Gender-Bias. Unter diesem Dach finden die meisten Gesellschaftsmitglieder ihren sicheren Platz. In vielen dieser Gemeinschaften haben die Mütter schon seit Langem eine zentrale und leitende Rolle. Indigene Gemeinschaften kennen auch Priesterinnen und Schamaninnen und sind emanzipatorisch der katholischen Kirche weit voraus.
Mehr Zirkularität, weniger Linearität. Das immer Weiter, Höher, Schneller des Nordens mit ungebremstem Wachstum, Konsum, basiert auf einer extraktivistischen Raubbau-Wirtschaft, steht das Kreislaufdenken indigener Völker gegenüber. Mutter Natur gibt und nimmt, in einem ausgewogenen Gleichgewichtsverfahren. Die ingenieurwissenschaftlich imposanten Bewässerungsterrassen der Inka waren Ausdruck davon. Kein Wassertropfen ging verloren.
Neudenken der Europäischen Aufklärung statt eurozentrische Kirchturmdenkerei. Viele Impulse aus den Amerikas hatte Europa bereits vor der Französischen Revolution aufgegriffen, etwa die unter indigenen Stämmen verbreitete „Freiheit und Gleichheit“ (s. Beitragsbild/FREITAG Debatte #37/2022_15. Sept. 2022). Das waren in der feudalistisch und streng in Kasten organisierten Gesellschaft Europas unbekannte Begriffe, heute sind sie demokratisches Allgemeingut. Im Gegenzug wanderten europäische Technik, Wissenschaft, Wirtschaft über den Atlantik. Heute leben wir in einer „vollen Welt“, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker. Für die in der europäischen Aufklärung geborene Wirtschaft und ihre Formen ist kein Platz mehr. Deshalb fordert er eine Neo-Aufklärung.
Keine Fachidiotie, sondern Trans-Disziplinarität. Statt wie in der heutigen Wissenschaft alles ins Kleinste zu zerlegen den Blick erneut fürs große Ganze öffnen. In der TU München bspw. belegen Ingenieurstudenten außer Statik auch Philosophie. Alexander von Humboldt, einer der letzten Universalgelehrten, setzt hierfür die Leitplanke. Mit seinem fachübergreifenden Blick wird er heute als erster Ökologe der Wissenschaftshistorie gefeiert.
Zivilgesellschaft als Game-Changer. Parteien, Organisationen, Lobbys sind zu rigide, erweisen sich – Herr Bundeskanzler Scholz – statt Zeitenwender meist als starre Zeitenwände (und wohin hat uns Ihre Energiewende geführt, Frau Merkel?). Wandel und Wenden kommen vor allem von den zivilgesellschaftlichen Akteuren, die weniger in organisatorische Hierarchien eingebunden sind. Auch hier schließt sich wieder der Kreis zu den Indigenen. Die athenische Polis waren in einigen Stammesgesellschaften verbreiteter als in der europäischen Adelsgesellschaft und im absolutistischen Frankreich von König Ludwig XIV., Sonnenkönig („der Staat bin ich“).
Günter Löffelmann schloss skeptisch. Ihm fehlten die Top-down Impulse für eine Zeitenwende, im Übrigen: Während es einst hieß, vor dem Weltuntergang noch ein Bäumchen zu pflanzen, würden sich heute wahrscheinlich die meisten noch einen Netflixfilm reinziehen.
Lisa Popp sieht keine Gegensätze in global-südlich indigen-biozentrischer Lebensweise und global-nördlicher Technik-Wissenschaft. Als Beispiel nannte sie die Herstellung von künstlichem Fleisch zum Sichern der Welternährung. Doch sie mahnte zur Eile, es sei Zeit, „in die Puschen zu kommen“.
Am besten auf den Punkt brachte die Sendung der Pauseneinspieler von George Bernhard Shaw, irischer Literaturnobelpreisträger 1925: „Was wir brauchen sind Verrückte. Seht wohin uns die Normalen gebracht haben.“
Nächste Lora Wissenschaft Kontrovers Sendung am 1. Dezember 2022 zu Epigenetik.