„Wenn auch doch alles erfunden, es ist doch alles wahr.“ Diesen Satz Gerhard Hauptmanns über das dramaturgische Strickmuster seiner „Weber“ zitiert Peter Neumann in „Feuerland. Eine Reise ins lange Jahrhundert der Utopien 1883 – 2020“. Darin versammelt der Philosoph und Journalist viele der großen Intellektuellen dieser Epoche und lässt sie aus dem Nähkästchen plaudern, an welchen Fragen sie verzweifelten, wie sie unter sich selbst, der Gesellschaft, ihren Kontrahenten litten.
Krakatau-Geist
Der Autor verweist im Anhang auf „Fingerzeige“ und „Fragmente“ über die von ihm Beschriebenen, die als Quellen dienten. Doch viele Einzelheiten sind von ihm wie bei Hauptmann erfunden, sagen wir, eleganter: nachempfunden oder wissenschaftsidiomatisch hermeneutisch gewonnen.
Aber dass beim Ausbruch des indonesischen Krakatau, dem Startkapitel, der Kronleuchter in einer Kirche in Altona bei einem Gottesdienst 15 Minuten lang schwankte, ist natur-wissenschaftlich nicht haltbar, auch und insbesondere, wenn der Schreiber sich im Quellennachweis auf einen Hobby-Biologen bezieht, der diese Beobachtung drei Jahrzehnte nach der Eruption am anderen Ende des Erdballs niederlegte.
Allenfalls war im Ärmelkanal nur eine kleine Tidenänderung messbar und auch die registrierten atmosphärischen Turbulenzen scheiden als Verursacher aus. Ein vulkanischer Winter, wie u.a. in Edvard Munchs „Schrei“ malerisch angedeutet, wäre treffender gewesen.
Antagonisten
Die dramaturgische Fallhöhe steigert Neumann, indem er in vielen Kapiteln Persönlichkeiten kontrapunktisch gegenüberstellt, etwa Nietzsche und Wagner. Während Ersterer mit seinem Übermenschen alles Erlöserhafte aus der Welt wegdenken wollte, schleuste Letzterer es mit seiner Musik wieder ein. Thomas Mann und Gräfin Reventlow, die sich mit ihrer Literatur von ihren patrizischen Elternhäusern emanzipieren wollten und sich auf die nie endende Suche nach sich selbst machten, am Ende so Sperriges, aber offensichtlich Bleibendes wie Doktor Faustus hinterließen.
Wittgenstein, der eine Art ingenieurwissenschaftliche, sprachlich mechanistisch reine Philosophie anbetete, und Trakl, der dem Schlachthaus des Ersten Weltkriegs mit einer tödlichen Überdosis Kokain entrann; Joyce und Proust, Literatur-Granden, aber eigentlich nur Dampfplauderer mit Riesenego; Bloch und Weber im wissenschaftlichen Ringen um den methodologischen Schnellgriff; Freud und Dalí, die die surrealistische Welt jenseits des Hier und Jetzt einfingen, wobei der Künstler aufpassen müsse, nicht selbst auf der Couch des Psychoanalytikers zu landen, ironisiert Neumann. Hübsch!
Utopien?
Das alles liest sich sämig, mit schöpferischer Prosa („…versuchen die Blöße ihrer inneren Leere mit immer neuem Geschwätz zu überdecken, den immer gleichen tollwütigen, amüsiersüchtigen Reflexen“), mitunter phrasig („bis an die Zähne bewaffnet“), übrigens mit nur einem Rechtschreibfehler (seine Dienste, S. 203), heiter bisweilen, wenn Heidegger am Olymp im Touristenrummel dem göttlichen Griechengeist nachzuspüren versucht. Der Leser verbleibt mit einem tiefen Eindruck der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, vor allem auch ernüchtert, dass alle nur mit Wasser gekocht haben. Worin bestand noch mal deren denkmalhafte Größe?
Am Ende bleibt von den behaupteten Utopien nicht viel übrig – oder ist das ihr Wesen und will der Autor vorführen, dass sie eigentlich gar nicht viel wert seien, zumindest diese?
Couch-Mythos
Vielleicht. Hat Freuds Traumtheorie den Menschen aus ihren Seelennöten verholfen? Die Couch, Freud mit der Zigarre dahinter, ein packendes Bild, fast bis in alle Ewigkeit – heute sind die mentalgesundheitlichen Dilemmata der Menschheit grassierender als die Covid Pandemie Schäden. Statistisch belegt und von Freud als Retter ist nirgendwo die Rede. Wanted: der Analyst, der den Mythos hinterfragt, statt ihn zum x-ten Mal neu aufzugießen.
Ähnliches ließe sich für die Paare Jaspers und Arendt oder Benn und Adorno sagen. Haben sie mit dem Unerklärlichen des Dritten Reichs wirklich aufgeräumt? Wer hat sich durch Adornos (und Horkheimers) Dialektik der Aufklärung und deren sprachlichen Granit hindurchgebohrt?
Filtrieren!
Was bleibt von Arendt außer ihr Satz von der „Banalität des Bösen“? Gleichwohl selbiges, Faustisch-Diabolisch-Himmlisches auf Künstler wie Benn offensichtlich faszinierend wirkte – so wie heute erneut Totalitarismen in diversester Form. Wer über Benn schreibt, gerade im Tandem mit Adorno, sollte diese fatale Attraktion erklären – versuchen. Das beschriebene Ambiente seiner Berliner Kneipe ist allenfalls nur eine feine Spur.
Bei den Utopie-Protagonisten häufen sich die NS-Verfolgten, darunter auch Benjamin. Seine Flucht über die Pyrenäen ist tragisch, packend, lässt sich in jeder Wiki nachlesen. Sein Lebenswerk stattdessen, seine geschichtsphilosophischen Thesen, die gehörten zumindest an-analysiert. Seine Vorstellung von der Geschichte als eine der Sieger: endlich ein Treffer! Aber wie sähe die implizierte Geschichte der Besiegten aus? Auch hier: Filtrierung satt Aufguss täten besser.
Apokalyptik
Am Ende bleibt Ratlosigkeit. Warum der Startschuss mit dem Krakatau? Erst auf dem Buchdeckel entdeckt man, dass die Eruption die Macht der im Buch versammelten Utopien und ihrer Urheber ausdrücken soll. Hm … Was hat die Entschimmelung von Goethes Leiche anno 1970 zu Weimar mit dem Thema, was Goethe mit „Mars“, wie der Titel insinuiert, zu tun? Allenfalls der Hinweis auf Jupiter, den römischen Zeus, Göttervater, baut die Brücke, die die Parallelität zum Dichtergott ahnen lässt, von hinten durch die Brust ins Auge. Warum das Schlusskapitel „Wuhan 2020“, wenn größtenteils von der Weltuntergangsuhr die Rede ist und die Pandemie nur im letzten Absatz angesprochen wird?
Ist dieses Buch nicht auch, dokumentarisch, ein Zeugnis für die Schwäche der Geisteswissenschaften, ihrer Unfähigkeit zu Utopien? Für ihre Kunst stattdessen, wie der legendäre Karl Kraus übers Feuilleton bemerkte, auf der Glatze eine Locke zu drehen?
Trumpf
Wahrscheinlich sind die Technik- und Naturwissenschaften ihnen weit voraus, gleichwohl Prominente und Intellektuelle in Deutschland gerne damit flirten, dass sie hiervon nichts verstünden. Ihr Pech. Schrieben die wahren Utopien des 20. Jahrhunderts nicht Einstein mit seiner Relativitätstheorie (ohne die kein Satellit funktionierte), der Menschheitstraum Mondflug (pikanterweise aus der Nazi-V2-Raketentechnik entwickelt), das Internet, unsere lichtschnelle Postkutsche?
Peter Neumann: Feuerland.
Eine Reise ins lange Jahrhundert der Utopien 1883-2020.
Siedler 2022, 24 €