Für Politiker ist die Wissenschaft ein breites Schutzschild, hinter dem sie sich gerne verstecken. Sie bietet beliebige Argumente mit deren Hilfe sie sich leicht ihrer Verantwortung entziehen können. Selbständiges Denken wird auf diese Weise vermieden. Egal ob Klimawandel, Bildung und Ausbildung, oder Gesundheit: Beweiskräftige Untersuchungen wissenschaftlicher Experten sind immer schnell zur Hand. „Die Wissenschaft sagt uns ….“ ist ein geflügeltes Wort, mit dem Politiker jede demokratische Debatte im Keim ersticken.
Ohne wissenschaftliche Beweise im Hintergrund stehen Politiker ziemlich nackt da. Aber sind wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage politischer Entscheidungen nicht vielleicht auch ein Beweis für die politische Reife einer Demokratie an der Wende zu einer „Scientokratie“?
DIE SCHLACHT DER IDEEN
Das britische Institut für Ideen, Institute of Ideas, trifft mit seiner öffentlichen Diskussion zum Thema „Evidenzbasierte Politik – Drücken sich Politiker um ihre Verantwortung, wenn sie sich hinter der Wissenschaft verstecken?“ den Nerv einer neuen Wissenschaftsdebatte. Es ist eine von mehreren Sitzungen, die das Institut auf seinem jährichen Kongress <a href=“http://www.battleofideas.org.uk“„Schlacht der Ideen“ durchführt, der in diesem Jahr am 20. März in der Royal College of Arts in London stattfindet. Während dieser Veranstaltung diskutieren Wissenschaftler, Politiker und Journalisten vor und mit dem Londoner Publikum über Sinn und Ziel von Wissenschaft in der Verbindung von Politik.
SCIENTOKRATIE STATT DEMOKRATIE
Das ist bitter nötig, damit eine mögliche Scientokratie nicht die demokratischen Entscheidungprozesse gänzlich untergräbt. Bekanntlich lassen Politiker ja nur das erforschen, was ihre vorgefasste Meinung bestärkt und die Wissenschaftler freuen sich über zusätzliche Drittmittel. Staatlich geförderte Forschung wird auf diese Weise schnell zu einem Instrument, das ungeprüfte politische Annahmen stützt, aber nicht mehr dazu taugt, eine Gesellschaft weiter zu entwickeln.
Wissenschaftliche Erkenntnisse, die politischen Zielen widersprechen, verschwinden einfach im Giftschrank, wie jüngst die Studie zur privaten Krankenversicherung in Deutschland. Diese Untersuchung kommt nämlich zu dem Schluss, dass private Krankenversicherungen keine Geschäftsmodelle sind, die kranke Menschen effizient absichern können. Eine solche Aussage passt der derzeitigen deutschen Regierung aber überhaupt nicht ins Konzept. So ordnete der zuständige Minister Rainer Brüderle (FDP) an, die Studie verschwinden zu lassen. Glücklicherweise vergeblich. Sie tauchte nämlich auf der Webseite Wikileaks wieder auf (Schlussbericht Private Krankenversicherung, 25 Jan 2010).
DER FORESIGHT-PROZESS
Immer dann, wenn Politiker gesellschaftliche Prozesse anregen und sie auch durchziehen, besteht Gefahr für die Demokratie. Ein Beispiel ist der Bologna-Prozess, auf den sich ein paar europäische Minister geeinigt hatten, der aber erst Gegenstand öffentlicher Debatten wurde, als er gewaltig aus dem Ruder lief. Möglicherweise bahnt sich in Deutschland ähnliches mit dem sogenannten „Foresight“-Prozess des Bundesforschungsministeriums an, der 2007 losgetreten wurde. Auch er sieht keine demokratische Mitwirkung der Bürger zu wichtigen Zukunftsfragen vor.
Mit dem Foresight-Prozess soll die Innovationsfähigkeit des Forschungs- und Bildungsstandortes Deutschland nachhaltig gesichert werden. Er dient dazu, neue Schwerpunkte in Forschung und Technologie festzustellen, Gebiete für übergreifende Aktivitäten zu benennen, Potenziale für strategische Partnerschaften herauszufinden und die wichtigsten Handlungsfelder für Forschung und Entwicklung festzulegen.
Immerhin, die Methoden des Foresight-Prozesses hat das Ministerium offen gelegt. Und der Tat lässt das Vorgehen in diesem Prozess ausdrücklich nur Expertenmeinungen vor, die in zwei Workshops und einer Online-Befragung eingeholt wurden. Im Dunkeln bleibt, nach welchen Kriterien die Experten ausgewählt wurden.
Am 22. Juni 2009 fand der Abschlusskongress zum Foresight-Prozess statt. Jetzt sollen bis Ende September 2010 Wissenschaftler des Instituts für Technologie und Arbeit in Kaiserslautern darüber urteilen, ob dieser Prozess auch methodisch korrekt durchgeführt wurde. Bleibt die spannende Frage, ob die Gutachter in ihrem Urteil den gravierenden Mangel an Demokratieverständnis auch wirklich als eine entscheidende Schwäche des gesamten Prozesses sehen.
Da es offenbar Teil politischer Herrschaft ist, unangenehme Wahrheiten zu unterschlagen, wie das Beispiel aus dem Hause des Wirtschaftsministers Brüderle beweist, so ist auch bei der Auswertung des Foresight-Prozesses zu befürchten, dass nur die vorgefasste Meinung der derzeitigen Regierung zementiert wird.
WISSENSCHAFT DARF NICHT VOM DENKEN BEFREIEN
Aber Wissenschaft und Forschung gehen alle an. Es geht dabei nicht um vordergründige Zwecke, wie Innovationen oder noch mehr Wissenserwerb. Es geht auch nicht um die Verwirklichung einer Wissensgesellschaft.
Vielmehr geht es darum, grundsätzliche Diskurse über die Bedeutung von Forschung und Wissenschaft für den Erkenntnisgewinn einer Gesellschaft zu führen, damit sie sich intellektuell, sozial und kulturell weiter entwickeln kann. Umgekehrt kann auch nur eine so entwickelte und gebildete Gesellschaft in demokratischen Debatten und Entscheidungsprozessen der Wissenschaft gegenüber ihre Bedürfnisse deutlich machen und sie gleichzeitig daran hindern, ihre Freiheit so zu mißbrauchen, wie sie es in totalitären Systemen gerne getan hat. Nicht zuletzt muss eine demokratisch offene Wissenschaft die Politiker auch in die Lage versetzen, wieder selbst zu denken, damit sie sich nicht hinter Expertisen verstecken oder sie ganz verschwinden lassen können. Nur so schützt sich die Wissenschaft sich auch selbst davor, zum naiven Büttel politischer Macht zu werden.
Foren, wie die „Schlacht der Ideen“ in London oder auch die „Wissenschaftsdebatte 2009“ im Internet, die der Journalistenverband TELI ins Leben rief, sind die ersten hoffnungsvollen Zeichen für ein neues Nachdenken über Wissenschaft, eine neue Kultur des Diskurses.
„Scientokratie“ — das ist ein Schlüsselbegriff in dieser Debatte. Wissenschaftliche Ergebnisse, gerade wenn es um die „weichen Nicht-Naturwissenschaften“ geht, sind ziemlich beliebig. Bei einem zur Ehrfurcht vor der Wissenschaft erzogenem Volk macht ein Politiker dennoch Punkte, wenn er sich auf die Forschung beruft.
* Zum einen muss es also darum gehen, die Scientokratie vom Thron zu holen und ihre Relativität ins öffentliche Visier zu nehmen.
* Zum anderen sollte in einer Demokratie die Öffentlichkeit viel mehr in diese Scientokratie einbezogen werden. Dafür müssen schulische Bildung und WISSENSCHAFTS-JOURNALISMUS gestärkt werden.
* Genau so wichtig aber ist, den Bürger, Wähler und Steuerzahler direkt an dieser Scientokratie einzubeziehen, seine Meinung in die Entscheidungsprozesse einfließen zu lassen.