Quo vadis, Demokratie?

Dieses Werk gehört zu den Grundfesten der Politikwissenschaft in der Bildungswelt. Wie ist Demokratie entstanden, welche denkerischen Köpfe haben sie bereichert, was für Umschwünge hat sie erlebt? Die Publikation in ihrer ganzen historischen Länge sowie kulturgeschichtlichen Breite bleibt ein klassischer Überblick, gut lesbar, teilweise sogar spannend – nunmehr in der neuesten, 10. Auflage mit der wichtigen Erweiterung: Postdemokratie, von einigen auch „Spätdemokratie“ genannt (Milosz Matuschek), in der Schraubzwinge von Trumpismus und Populismus, zunehmender Autokratie und Despotie, gefangen in den Spannungen der Pandemiepolitik, überholt von weltweiten Wetteranomalien, seit mittlerweile Jahrzehnten in demokratischen Foren debattiert, ohne Ergebnis, aber mit spürbar zunehmenden klimatischen Folgen.

Insgesamt: Die Situation scheint eher düster, immer mehr Menschen leben weltweit in nichtdemokratischen Ländern, auch innerhalb Europas und Deutschlands beklagen Vertreter die Zivilgesellschaft (Rupert Strachwitz) „shrinking space“ – gibt es neue demokratische Aufbrüche, Alternativen?

Nein! So deutlich sagen das die Herausgeber allerdings nicht. Wahrscheinlich ist das Auf und Ab des Demokratiegedanken in den letzten 2500 Jahren eher mit dem Wellenmodell des Lichts vergleichbar, mit derzeit einer historischen, vielleicht sogar gesetzmäßigen Abwärtsbewegung. Aber sind wir ohnmächtig dagegen?

Immerhin finden Lesende im neuen Buchkapitel „Gegenwartsprobleme“ eine Reihe aktueller Politikwissenschaftler aus aller Welt, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Liegt das Demokratiedefizit vielleicht daran, dass Demokratie immer zu eurozentristisch gedacht worden ist, mit etlichen Verletzungen der Idee durch den europäischen Kolonialismus? Dass greift der Kameruner Achille Mmembe in seinem Beitrag über den Postkolonialismus auf. Doch zu mehr als einer Ethik des Passanten oder Trabanten, alles ist in Bewegung in einer pluralen und diversen Welt, kommt auch er nicht. Möglicherweise ein Ausdruck dessen, dass Afrika weiterhin tief im von weißer Philosophie geprägtem Weltgeist steckt, ohne sich auf seine eigenen reichen Traditionen zu besinnen.

Chantal Mouffes „Agonistische Demokratietheorie“ erweist sich in der Tat als Agonie (Angst, Kampf, Niedergang), weil insgesamt unverständlich, versehen mit der Frage, warum der Beitrag in einem so wichtigen Ergänzungskapitel aufgenommen werden musste? Auch Pierre Rosanvalon kann mit neuen Formen der politischen Repräsentation nicht so viel Neues beitragen, endet aber über das kontinuierliche Denk- und Lernprojekt Demokratie mit einem denkwürdigen Schlusssatz: „In der Werkstatt der Demokratie sind wir alle Lehrlinge.“

Der Schluss, sozusagen die Krone flechtend, wird Habermas zuteil. Sein Begriff von „Deliberativer Demokratie“ ist weltweit im Gebrauch, wenn auch oft nur als Schlagwort, weil die Ableitungen nicht allen Nutzern klar sind. Zu den wichtigen Akteuren deliberativen Geistes zählen Habermas-Interpreten die Zivilgesellschaft und die freien Initiativen von Bürgerinnen und Bürgern – außerhalb der Parteien, Interessengemeinschaften, Medien.

Dies ist in der Tat wahrscheinlich die Crux wie auch Antwort, und zwar schon über die gesamte Demokratiegeschichte hinweg, dass jemand den Mut aufbringt, etwas zu bewegen, und zwar zum Zwecke des Gemeinwohls, auch gegen den Mainstream und anders gerichteten Interessen. Hierfür, so Mitherausgeber Buchstein, ist Habermas persönlich das beste Beispiel, der in den großen Kontroversen immer klare, besonders auch abweichende Meinungen geäußert hat, aber immer gut begründet. So auf allen Ebenen der Gesellschaft zu agieren, das ist deliberative Demokratie, Entscheidungen miteinander immer wieder neu auszuhandeln und genau dies herauszufordern.

Bei der Lektüre bleiben drei Fragen offen: WARUM Politikwissenschaftler oft so komplex-nichtssagend denken und formulieren (nicht nur Mouffe); OB es wirklich keine neuen Politikmodelle gibt als Ergänzung zum Wellenmodell; WIE sich Technologie, Forschung, Wissenschaft als (oft umstrittene) Schrittmacher der Zivilisation in diese Politikmodelle und Partizipation einreihen – oder ob sie als Entscheidungsmächte außerhalb der Demokratie stehen, sakrosankt oder extra-sankt?

Hubertus Buchstein, Kerstin Pohl, Rieke Trimçev: Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart. Wochenschauverlag Frankfurt/M., 10. Auflage, 2021

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