Science Fiction – wo beginnt sie, wo hört sie auf?

An diesem Sommerwochenende geht’s bei den TELI-Literatur-Hits um Sciencefiction. Real-wissenschaftliche und künstlerisch-erfundene. Dazu stellen wir zwei Autoren vor. Simon Märkl, promoviert in Kulturhistorie von der LMU München/Rachel Carson Center/Deutsches Museum, mit seiner Dissertation: Big Science Fiction. Kernfusion und Popkultur in den USA; sowie Marc Dressler, ebenfalls promovierter Vollakademiker, mit einem veritablen Fächer studierter Forschungsdisziplinen, Wissenschaftsjournalist, und sein Romanwerk: Ich im Paradies. 2x Kunst, mit unterschiedlichen Gesichtern.

Fusionsenergie – die Suche nach dem Heiligen Gral?

Das Buchcover zeigt einen Kernfusions-Heimreaktor. Der wird im Garten vergraben und könnte alle Energiesorgen auf alle Ewigkeit ausräumen. Das ist für Einige keine Vision, sondern fast greifbare Realität, die immer wieder durch die Medien wandert. „Die Sonne auf der Erde“, so die populäre Version der Atomkernverschmelzung, ist ein Traum seit sieben Jahrzehnten. In wenig Technologien ist mehr Geld geflossen und wenige haben bisher so wenige Früchte getragen. Auf der Suche nach den Gründen unternimmt der Autor einen transdisziplinären Brückenschlag zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften.

Die Entfesselung der Energie von Atomen, die Atombomben am Ende des Zweiten Weltkriegs, das atomare Wettrüsten und die permanente Steigerung der atomaren Schlagkraft: Das stürzte die Welt nicht nur in tiefste Besorgnis, sondern löste vor allem auch eine fast grenzenlos scheinende Zukunftsbegeisterung aus. Alles schien machbar mit Atomkraft, fliegende Autos mit Reaktormotoren im Kleinen, im Großen immense Eingriffe in die Kontinente wie etwa einen neuen Panamakanal in die mittelamerikanische Landbrücke zu sprengen. Der „Panatomic Canal“ sollte durch „Geographic Engineering“ entstehen mittels „nukes“, wie US-Amerikaner fast liebevoll nukleare Sprengkörper nennen.

Diese euphorische Aufbruchsstimmung, alles ist möglich–wir sind Gott, wurde hauptsächlich von den USA als Siegermacht des Weltkriegs in die Welt getragen und verbreitete sich durch Presse und Rundfunk, auch weit über die Grenzen. In ihnen gedeihen Wissenschaftsnarrative und „Bilder werden wichtiger als Bildung“, so die zitierte Wissenschaftssoziologin Dorothy Nelkin aus Selling Science, einem Standardwerk, das die unkritische Naivität von Journalisten gegenüber der Forschung untersucht. Sie schießen den von Eisenhower und Kennedy geprägten Terminus Big Science mit allen daran hängenden Hoffnungen und Utopien in den Medienhimmel.

Und das ist steigerungsfähig (so wie ein altes journalistisches Stilmittel lautet: Mit einem Erdbeben starten — und das steigern). Aus Big Bang, dem Urknall, wird „More Bang“. Besonders das legendäre Life Magazin tut sich mit der Berichterstattung über die Wunder der Atomkraft hervor und erzielt damit Millionen-Auflagen (mit großer Strahlkraft auf deutsche Medien wie Quick, Hobby, Rasselbande). Die immer beliebter werdenden Comics greifen die Wissenschaftsthemen rund um Atom und Fusion gierig auf und geben ihnen weiteren Schub. Hollywood kocht und verdient am Medienhype mit. Katastrophen-Blockbusterfilme wie On the Beach und Dr. Strangelove heizen das Grauen an, aber vielleicht noch mehr die Faszination der Öffentlichkeit an Zukunftsutopien. Im eskalierenden Kalten Krieg wird das Atom zum Freund und Walt Disney produziert dazu einen passenden Lehrfilm. Entenhausen wird wissenschaftswürdig.

Das alles macht den Weg frei für die Fusionsforschung, auch hier als publizistischer Kanonier bahnbrechend wieder Life, mit einer im Hausmantel bekleideten Schönheit (im Kontrast zu weiß-bemantelten Laborforschern), von Kernfusion im Haushalt träumend, und der Bildunterschrift: She used to think science was for men only.

Fusionsforschung wollte nicht richtig vorankommen. Die Weltausstellung 1964 in New York gab ihr mit Spezialpavillons, wiederum von Disney designt, einen Booster. Morgenluft und Rückenwind erhielt sie von der 1970er-Energiekrise (Ölboykott der arabischen Förderländer). Edward Teller, Mitentwickler der Atombombe im Manhattan-Projekt und nuklearer Fortschrittsideologe, sah fast keine Probleme mehr, hielt sie für „einfach und gut verstanden“. 1972 widmet das Edelmagazin „National Geographic“ der Fusion zehn bebilderte Seiten, viel ausführlicher als erneuerbaren Energien. Der TMI Reaktorunfall 1979 bescherte auch den medialen Höhenflügen einen Knick. Die attraktive Umweltaktivistin Jane Fonda (und Hauptdarstellerin des Nuklear-Desaster-Films „China Syndrome“) wird sexistische Zielscheibe der Fusionsfreunde mit dem Slogan, Nuklearkraftwerke seien besser gebaut als sie, als Stoßstangenpropaganda.

Märkls Schlusskapitel lautet „Retro-Futurismus – Zurück in die Zukunft“. Mit dem Bau des internationalen Kernfusionsreaktor ITER in Südfrankreich ist die Technologie in eine neue Phase getreten, wenn auch nur als Vorstufe eines Versuchsreaktors, und trotz wenig überzeugender Anläufe in den letzten 70 Jahren. Ob Fusion, die „Sternenmaschine“, am Ende nach schätzungsweise 100 Jahren Forschung funktioniert, steht in den Sternen. Fusion, wie die Suche nach dem Heiligen Gral in der Arthussage?, fragt der Autor abschließend.

Die Lektüre dieses Buches bringt Spaß. Hier war ein Kulturhandwerker am Schreiben mit Passagen, die sich feuilletonistisch unterhaltsam lesen, mit Seifensiedern, wie sich Medien und populäre Kultur vor die Fusionstechnologie gespannt haben. Visionen sind gut verkäuflich. Mitunter stört beim Lesen der hin und wieder umhergeisternde Fehlerteufel. Und wird der Fission, der Atomspaltung, nicht zu viel Platz eingeräumt? Nun ja, irgendwie sind sie Zwillinge. Vielleicht überlesen, aber was hat die Fusionsforschung Steuerzahlenden bisher gekostet, eine Billion? Der Mondflug war realisierte Big Science Fiction, unter erheblichen politischen Druck im Kalten Krieg. Ob die sich derzeit verschiebenden Machtverhältnisse auf der Welt und begleitenden Energieengpässe womöglich der Fusion in die Hände spielen? 2050 werden wir vielleicht mehr wissen.

Siehe hierzu auch Radio Lora Wissenschaft Kontrovers mit dem Autor:
Kernfusion — Energie-Dorado oder Milliardengrab
https://www.wissenschaftsdebatte.de/?p=6301

Odyssee durch Götter und Primzahlen

Der Buchheld spielt mit Zeitreisen, taucht ein in die Relativitätslehre, hantiert mit schwindelerregender Mathematik, erkennt, nur schemenhaft: Irgend jemand besitzt den Schlüssel zur Schöpfung, eine Art Copyright, so wie der Autor zu seinem Text, der Bildhauer zu seiner Skulptur. Ist das der Schöpfergott und alle anderen Planeten, Erscheinungen im Universum sind Raubkopien, Plagiate? Oder wäre das allzu menschlich gedacht, ein kapitalistischer Holzpfad? Anders herum, entsteht Kreation nur durch Kongenialität? Baut die eine Idee auf der anderen auf, befruchtet sich alles gegenseitig, stehen Schöpfer auf den Schultern anderer Schöpfer.

Um das zu klären, arbeitet sich der Held an Dichtung und Poesie ab. Schreibt seitenlang Reime, in denen Hunderte Götter der Menschheit aus verschiedenen Kulturen und Historien aufpoppen. So versessen sind wir auf Erkenntnis darüber, wo wir herkommen und wo wir hingehen. Eine im Universum universale Frage, offensichtlich. Oder warum hätte sich die Menschheit so vielen Göttern anvertraut? Sind sie die Mutter aller Wissenschaft?

Der Erkenntnis-Jäger zieht sämtliche Register. Seine Göttersuche beginnt im Schwäbischen in der durchaus vertrauten Welt des hektisch-heißen Stuttgarter Talkessels und dem benachbarten idyllischen Schwarzwald. Was schon mal für Kontraste und Spannung sorgt im Kopfe des Lesers. Der Held ist auf einem e-Vehikel unterwegs, wird übers Handy von einer KI gesteuert. Es scheint eine eher diktatorische Welt, die sich die Elektronik zum Bündnispartner gemacht hat. Soweit alles noch vertraut, die Extrapolation und vielleicht Dystopie unserer Gegenwart. Dann erhält die Romanfigur den Befehl zum Flug zu den Sternen. Auch das noch normal, ein Abenteuer, welches uns viele Utopie-Erzählungen, Science-fiction, eine Inflation modernster Filme, IT-Herrscher zumindest so vorgaukeln.

Was folgt, ließe sich so interpretieren. Ein literarisches Geflecht aus Robinsonade, Wikingervorstoß über die Meere respektive durch Zeit und Raum, in einer Odyssee zusammenlaufend, nur nicht in der engen Welt des Mittelmeeres, sondern im großen Universum. Das alles nicht nur in Anlehnung an die Götterwelten, sondern auch unterschiedlichen Sprachen.

Im künstlerischen Sinne fasst der Autor Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, die verschiedenen Sagen und Mythen der Menschheit in einem Roman zusammen: Nicht nur die klassische griechische Odyssee, auch die Kulturklassiker „Odyssee durch den Weltraum“ und „Per Anhalter durchs All“ blitzen assoziativ auf. Ob der kosmische Wahrheitssucher sich wohl im „Restaurant am Ende der Galaxis“ gestärkt hat, mit einem galaktischen Espresso oder alkoholhaltigen Donnerschlag?

Die Frage kommt auf: Ist diese Heldenreise durch Raum und Zeit stellvertretend für den Wunsch vieler Menschen nicht eine Riesenillusion? Ist das All mit allen seinen kosmischen Katastrophen, unersättlichen Schwarzen Löchern, Sonnenexplosionen nicht die Hölle? Und wir Erdlinge Bewohner des Paradieses, ohne es zu wissen? Wäre Wahrheit so schlicht und einfach?

Aber wurscht, Autor und Held sind ja auf konventionelle Wissensdecken penetrierende Erkenntnis aus. So führt er die, die bis Seite 442 durchhalten, in einige weitere Rätsel bei der Entschlüsselung des Paradieses ein. Ein mystischer Code, der sich aus der Aneinanderreihung von Götternamen und Primzahloperationen ergibt. Bestechend, sehr souverän, wie hier meta-wissenschaftlich dem Zugang zum Paradies nachgespürt wird.

Am Ende des Tages sind wir nach dieser fulminanten Tour de Force wieder mit uns und unseren Paradies-Fantasien allein, wenn auch angereichert mit dem, was da hoch oben über unseren Köpfen abgeht. Das nächtliche Sternenfunkeln erscheint uns möglicherweise nicht mehr ganz so romantisch. Und wir gewinnen eine gewisse Sympathie für einfachere Vorstellungen wie Apfelbaum und Schlange, das Freudenhaus mit den (gleich wie vielen?) Jungfrauen, oder ganz banal: Grimms Schlaraffenland.

Simon Märkl
Big Science Fiction
Kernfusion und Popkultur in den USA
Transcript Bielefeld 2019

Marc Dressler
Ich im Paradies
Tradition Hamburg 2021
http://www.inspective.de/index.htm

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