Jurassic Park: Nachzüchten gegen Artentod?

Der Sommer und die TELI-Sommer-Lesehits 2022 gehen dem Ende zu. An diesem ersten Septemberwochenende eine Rezension über unser gespanntes Verhältnis zu Tieren. Mit Hund und Katze sind wir Best Friends, willkommene Kumpane in zunehmender Einsamkeit und Familienersatz, Esel bringen Managern gar Führungsstil bei – gleichzeitig ist jede achte Tierart durch unseren Lebensstil vom Aussterben bedroht. Gibt’s Hoffnung?

Wie der Herr, so’s Gescherr – Herrchen/Frauchen und Hündchen in schrillgrünen Gummistiefeln. Das Cover von „Mensch und Tier“ ist putzig, der Inhalt zwischen den Deckeln todernst. Er fasst eine Radioserie des Hessischen Rundfunks über die Tier-Mensch-Beziehung aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Blickwinkeln zusammen, rund um den roten Faden alarmierend rasch schrumpfender Biodiversität: Artentod.

Mit unseren 86 Milliarden Neuronen im Hirn sind wir Menschen das gefährlichste Wesen auf diesem Planeten, sein Ausplünderer, was mit der Seßhaftwerdung vor 10.000 Jahren begann (Neolithische Revolution), sich mit Beginn der industriellen Revolution vor 200 Jahren exponentiell steigerte, uns heute ins Anthropozän katapultierte, in das vom Menschen geprägte Erdzeitalter und dessen extraktiven Umgang mit Schöpfung, Erde, Natur – mit nur Jahren, allenfalls Jahrzehnten der Korrektur (S. 200: Matthias Glaubrecht, Evolutionsbiologe).

Eine harte Ansage, wenn auch nicht neu: Wir sind „moralisch retardiert … eigentlich in der Steinzeit stehengeblieben“ (S. 30f: Dagmar Röhrlich, ARD-Deutschlandfunk-Wissenschaftsjournalistin); und in Wahrheit gehörte hinter Rebekka Dieckmanns Kapitelüberschrift „Der Mensch, eine bedrohte Art?“ ein Ausrufezeichen! Dieser durch die Decke gehende Raubbau sägt am eigenen Ast, es knirscht.

Doch selbst mit drei !!! plus Totenkopf, wen interessiert’s noch? Vielleicht sind wir zu abgestumpft, so viel Krisengerede, so wenig Krisenmanagement, minimale Selbstreflexion bei jedem Einzelnen, bei einer ungebremsten Bevölkerungsexplosion von derzeit knapp 8 Milliarden bis 2050 fast 10 Milliarden Erdlingen.

Möge das Rundfunkresümee zahlreiche Lesende finden, und zwar nicht unter den bereits Missionierten, vor allem Lösungen finden helfen, die über das bekannte, aber wenig nützliche Arsenal hinausgehen.

Wenn jede achte Tierart vom Aussterben bedroht ist, lassen zwei Kapitel aufhorchen. Zum einen, dass viele Tierarten noch gar nicht entdeckt worden sind, zum anderen Experimentieren mit der Utopie des Blockbusterfilms Jurassic Park Nachzüchten ausgestorbener Tiere.

Wir kennen zwei Millionen Tierarten, schreibt der bekannte Wissenschaftsautor Joachim Budde (S. 122-130), aber das ist nur ein kleiner Teil des gesamten Tierreichs, sage und schreibe: nur ein Viertel! Das ist ziemlich sensationell. Nach seriösen Studien könnte der Erdball von bis zu 8,7 Millionen Arten bevölkert sein. Zu den bisher unentdeckten gehören hunderttausende Kleinstinsekten und im Boden lebende Kleinstlebewesen mit einer 80 Prozent hohen Dunkelziffer, getoppt von den Lebewesen in der Tiefsee (unter 200 m Meerestiefe) mit 90 Prozent unbekannter Wesen.

Und wonach werden neuentdeckte Arten nun benannt? Kurios! Nach Filmstars, Musikern, Partnern.

Viele Arten sind so klein, dass sie sich kaum mehr unterm Mikroskop erforschen und beschreiben lassen, um ihnen ihren Platz im großen Tierstammbaum zuzuweisen. Ein genetisches Barcodesystem, das sogenannte Metabarcoding ersetzt filigrane Detektivarbeit. Am Horizont: Mit einer Art Radar lassen sich in einer Wasser- oder Bodenprobe unbekannte Arten identifizieren und dem wissenschaftlichen Ordnungssystem zuweisen.

Die ARD-Wissenschaftsredakteurin Christine Werner geht der Jurassic-Fiktion auf den Grund mit „Arten-Rückzucht – nur eine fixe Idee?“ (S. 131-140) In dem Spielberg-Film wurde aus Dino-Erbgut, das sich in einer Mücke fand, die in einem Bernstein eingeschlossen war, ein Dinosaurier gezüchtet. Das ist nicht ganz Sciencefiction. Die Autorin bezieht sich auf die Forschungen des BioRescue-Teams, das aus Hautzellen des ausgestorbenen Nördlichen Breitmaulnashorns Stammzellen gewinnt. Daraus könnten Embryonen entwickelt werden, die in Nashornleihmüttern eingepflanzt und von ihnen ausgetragen werden. Eine Vision wäre, auf diese Weise eines Tages das vor 11.500 Jahren ausgestorbene Mammut wiederauferstehen zu lassen.

Erscheint nicht ganz unmöglich mit der rasch voranschreitenden Gentechnik. Die Frage, ob sich die schrumpfende Biodiversität damit umdrehen ließe, bleibt offen.

Die Buchbeiträge bemühen sich, komplizierte biologische Prozesse anschaulich darzustellen. Wissenschaft im Radio, auch in der Printschleife, zeichnet sich durch große Erklärungskompetenz aus. Dazwischen gibt’s immer wieder Aha-Erlebnisse, wie etwa, dass der Hund mit dem Wolf lebensfähigen Nachwuchs zeugen könnte, dass so wie heutigen Indern die Kuh diese auch einmal unseren Vorfahren heilig war, dass die Nazis den germanischen Urwald mit seinem Urwild wiederherstellen wollten, dass Esel gar nicht störrisch sind, sondern nur wir im Umgang mit ihnen, und wie sie uns Kommunikation lehren.

Nachdem so häufig in diesem Buch über Insekten die Rede ist, bleiben zwei Fragen offen: Ob sie wirklich einmal unsere evolutionären Nachfolger werden könnten, vor allem: Flugtechniken. Fliegen bleibt weiterhin ein Wunder. Wer Insekten und Vögel beobachtet, erkennt schnell, dass angesichts ihrer unerhörten Geschicklichkeit unsere Flugzeuge den schwerfälligen Bewegungscharme von Panzern haben. Und dass es zum „Schwimmen in der Luft“ um viel mehr als nur um das durch Flugzeugflügelprofile erzeugte Auftriebsprinzip geht. Kein Flügler, so ungelenk wie unsere Flieger, würde überleben. Eine Betrachtung hierüber und was Flugzeugbauer hiervon lernen könnten hätte diesem Buch noch eine weitere aufklärerische Dimension aufgesetzt. Und damit auch das Weltuntergangsnarrativ abgepuffert.

Denn nach allem, was wir historisch-kulturell lernen durften: Nicht Katastrophen, die Visionen öffnen die Tore in die Zukunft.

Volkmar Wolters, Stephan M. Hübner, Karl Felix Trüller, Heike Ließmann, Judith Kösters (Hg.): Mensch und Tier. Begleitbuch zum hr-iNFO Funkkolleg. Wochenschauverlag, Frankfurt/M. 2021

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