„Kühnster Erforscher neuen Terrains“

Er hat unser Denken erweitert, vertieft – umgestoßen, für nicht Wenige auch durchaus verunsichert. Ein Physikerleben lang hatte sich Hans-Peter Dürr (1929-2014) an der Quantenphysik abgearbeitet. Verstanden im faktisch-naturwissenschaftlichen Sinne hat er sie nie, wohl aber das: Materie gibt es im eigentlichen Sinne nicht, dafür aber etwas dazwischen (was sich vielleicht Geist nennen ließe).

Das ist die Erkenntnis des Münchner Ehrenbürgers, Direktors des Max-Planck-Instituts für Physik, Ehrendoktors der Philosophie, Trägers des alternativen Nobelpreises, der hiermit auch die bohrende Frage von Goethes Faust beantwortete, die Frage aller Fragen: Was die Welt im Innersten zusammenhalte?

Was hierin deutlich wird: Dürr war anders als die meisten Wissenschaftler. Seine Profession war für ihn eine umstürzlerische ebenso wie politische, die nach Einmischung, Passion, totalen Einsatz verlangte. Er war gegen die Atombombe und gegen Atomkraft, maßgeblicher Mitgestalter der Friedens- und Vordenker der Öko-Bewegung, „des Krieges gegen die Natur“.

Damit hat er wissenschaftliches Erkenntnisstreben nicht nur neu definiert, in eine größere Arena gestellt, sondern die größten gesellschaftlichen Umbrüche in den letzten 50 Jahren in vorderster Linie mit geprägt.

Wissenschaft in der Praxis ist eine konservative Denkdisziplin und der Freigeist Dürr galt für viele etablierte Forscher als kariertes Veilchen der Zunft. Rütteln an bestehenden Paradigmen ist in dieser Community nicht so sehr erwünscht, gleichwohl genau dies, laut einhelliger Definition, gewissenhafte Forschung anstreben sollte. Sein Anderssein hatte Dürr gemein mit dem britischen Biologen Rupert Sheldrake, der seinen deutschen Forscherkollegen als „kühnsten Erforscher neuen Terrains“ würdigte.

Bei aller Kritik seitens des forscherischen und auch politischen Mainstreams: Dürr war mutiger und grundsätzlicher, viel mehr Zeitenwender als heutige Protagonisten, die sich mit diesem Anstecker schmücken möchten. Und als solcher lebt er im kollektiven Gedächtnis fort, wie Claus Biegerts neuester Dokumentarfilm „Vom Sinn des Ganzen“ anschaulich und auch ergreifend vermittelt, unter anderem im ausführlichen Gespräch und Erinnerungen mit Dürrs Witwe Sue.

Dürr markiert die Physik als Kreuzweg zwischen Geist und Seele. So ist ihm auch der mittelalterliche Theologe Meister Eckhart nicht fremd, für den Leben „ewiger Wandel“ war, in Dürrs Diktion: „Wenn ich begreife, töte ich das Leben ab.“

Instabilität war für ihn normal, ja wünschenswert, Spirit des Lebens, Verschiedenheiten wie auch Kritik die Treibkraft für das Erlangen größeren Verständnisses, so wie Darwins „Fitteste“ sich nicht als Kraftprotze und im Wettstreit austoben, sondern in Kooperation gemeinsam weiterkommen, höhere Ebenen des Seins erklimmen.

Leben ist ein „Versuchslabor der Lebendigkeit“ für Dürr. Kann man dem auch gesellschaftlichen und großteils steuer-finanzierten Auftrag von Forschung näher kommen?

Doch was genau ist Dürrs ominöses Dazwischen? Etwas weiterhin sehr Geheimnisvolles, macht unfassbar neugierig, weshalb man sich mehr Aufklärung darüber wünschte. An dieser Kernstelle hätte der Regisseur konkreter werden können. So wie wir uns im derzeit erneut eskalierenden Ost-West-Konflikt und globaler Polarisation darüber mehr Details über Dürrs Friedensvision wünschten und wie sie erreichbar wäre. Im legendären NDR-TV-Talk mit seinem wortgewaltigen Doktorvater Edward Teller, Atomwissenschaftler und als „Vater der Wasserstoffbombe“ bekannt, darüber hinaus fulminanter Streiter für das nukleare Wettrüsten, hinterlässt Dürr keinen überzeugenden Eindruck, eher die des Schülers vorm großen Meister.

Aber, Dürr weitergedacht, vielleicht ist es ja auch Absicht, sich in dessen Fußstapfen, Jede und Jeder für sich, den Grundfragen des Lebens individuell und persönlich zu nähern. Schließlich ist der Mensch per se ein forschendes Wesen, ob als Fachexperte oder Alltagsexperte.

Bericht von der (Hybrid-)Filmpremiere im Münchner Zukunftssalon am 30.01.2023, moderiert von oekom e.V. Geschäftsführer Dr. Manuel Schneider, mit anschließendem Gespräch mit Regisseur Claus Biegert.

Der Dokumentarfilm ist als DVD erhältlich (103“, 9,90€)

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