In drei Tagen durch 481 Seiten „gefressen“. Das ist ein Lob an jeden Schreiber und Übersetzer. Was noch? Bei der Lektüre begleitete mich der Ausspruch des Vorstandsvorsitzenden des über lange Zeit größten deutschen Verlags. Wer mit uns „im Aufzug nach oben fährt“, der fährt damit auch wieder nach unten, sagte der CEO über das Boulevard-Produkt seines Haus. So bildreich, so zynisch.
Diese Anmutung insinuiert nicht nur das Cover von „Die Erfindung der Wirklichkeit“ mit einem Fesselballon über dem Schauplatz London. Der Romanheld, Oscar Babel, ein frustrierter Filmvorführer mit malerischen Ambitionen, wird von einem ausgebufften PR-Profi entdeckt, mit allen erdenklichen Mitteln als Guru einer erlösenden östlichen Philosophie in den Himmel medialer Omni-Präsenz geschossen, gnadenlos vermarktet.
Ein Auftritt in den königlichen Kensington Gardens vor 3000 Fans endet mit einer Orgie (die an die in Patrick Süßkinds „Parfüm“ erinnert). Babel hat von seiner Berühmtheit die Nase voll, sehnt sich nach echter Liebe, doch sein „Meister“ hält ihn in seinem goldenen Käfig, einem Luxushotel, gefangen, bereits den nächsten PR-Coup planend. Seine Investition in seine Kunstfigur verlangt nach Renditen. Babel gelingt die Flucht und seine eigene Rückfahrt in die Realität. Er springt aus dem Fesselballon in die Tiefe.
Das Werk beschreibt eine zunehmend materialistische Welt, Konsum total und eine fiktive Wirklichkeit, die immer mehr von der Werbebranche und ihnen dienenden „Mass(turbierend)enmedien“ (S. 452) inszeniert und diktiert wird, die Menschen entleert und nach Seelentröstern rufen lässt.
Was ist die Alternative, Gegenwelt: die Kunst? Oscars Freundin Najette lebt von der Passion hierfür, fast abgöttisch verehrt von dem verhinderten Künstler. Aber erfindet nicht auch jede Kunst die Wirklichkeit?
Insofern schwelgt der Autor, geschmückt mit vielen originellen und gefühlvollen Ausdrucksformen von Kunst, sprachlich sehr ergreifend ins Deutsche übertragen, in der Ausweglosigkeit der griechischen Tragödie inklusive dem seitenlang beschriebenen halluzinatorisch-transzendentalen Sterbeerlebnis.
Die antike Kunstform des Gefangen-Seins in der Ausweglosigkeit inspiriert die Reflexion. Was sind die Antriebskräfte unserer heutigen Zivilisation und was ist die Rolle von uns Journalist*innen darin?
Zweifellos, die unabhängigen und mutigen Denker und Verlage sind gefragt! Die aber gab’s noch nie so zahlreich wie Käsesorten im Supermarkt, sondern sind seltene Juwelen. Dennoch: Es gibt sie – jeder muss sich dazu selbst entscheiden, wie er oder sie in wessen Fahrstuhl mitfährt und wohin.