Wir sind inmitten einer Übergangsgesellschaft. Was kommt? James Poskett, Wissenschaftshistoriker, Warwick Universität, setzt Markierungen.
War es nicht Wissen von überall auf der Welt, das Europa, Deutschland, das Abendland zum machtvollen Kontinent aufsteigen ließ? Dieser winzige Wurmfortsatz Asiens, zerschnitten von Bergen, Meeren, unzugänglichen Tälern, in sich zerstritten wie die Kesselflicker?
Dümpelten wir nicht noch im dunklen Mittelalter, als Nachttöpfe auf Straßen entleert und für sämtliche Unbill Hexen als Heilmittel verbrannt wurden? – hätten uns nicht Erkenntnisse fremder Kulturen innerviert und nach oben katapultiert.
Jahrhundertelang hatten indische, arabische, chinesische Sternenbeobachter die Widersprüche des antik-griechischen Verständnisses von der Erde als Zentrum des Kosmos kritisiert. Bis es bei Keppler und Kopernikus funkte und sie das heliozentrische Modell schufen.
Das war der Urknall der modernen Naturwissenschaften. Nur mit dem umständlichen Zahlenwerk der Römer wären sie nicht weit gekommen. Erst die Numerik der Inder, die als arabische Zahlen nach Europa sickerten, ermöglichten denkerische Höhenflüge, Algorithmen; so wie Newtons Gravitationsgesetze und warum uns der Mond nicht auf die Köpfe fällt.
Unsere heutige Zivilisation mit allen Fortschritten verdanken wir globalem Wissensaustausch. Erst das Papier und der Magnetkompass der Chinesen küssten Renaissance und Aufklärung wach, Bildung nicht mehr allein für die feudale Elite, transozeanischen Verkehr, Importe von Waren und Ideen.
Botanische Gärten mit ihrem Arsenal an Heilpflanzen waren eine Gabe der Azteken, das Gold der Inka rettete viele europäische Fürstenhöfe vorm Bankrott, Kartoffeln aus den Anden linderten Hungersnöte, die Freiheits- und Gleichheitsidee der Französischen Revolution fand ihre Autoren bei den Irokesen.
Einsteins Relativitätstheorie, von den Nazis als „jüdische Weltverschwörung“ gehasst, wurde von einem Inder ins Englische übersetzt, von russischen und chinesischen Rebellen als wahre Revolution gefeiert, so der Welt zugänglich gemacht. Ohne Einsteins Erkenntnisse funktionierte kein Satellit.
Russland: Der Sputnik öffnete das Tor zum Weltraum, seine Chemiker erwarben sich große Verdienste um das Erstellen des Periodensystems. Die sich aus diesem Wissen nährende Chemieindustrie machte Deutschland in der Gründerzeit zur boomenden Wirtschaftsmacht.
In der polarisierten, sich zunehmend einigelnden Welt sei hieran erinnert: Unsere DNA ist globalisiertes Wissen, das über alle Schluchten hinweg unser aller geworden ist, Wälle der Kultur und Politik immer wieder eingerissen hat.
Gerade Europa und Deutschland haben hiervon bei allen Irrwegen und Unrecht unfassbar viel profitiert. Für den weiteren Weg bietet Poskett ein robustes Leitwerk durch turbulente Windstöße.
James Poskett
Neue Horizonte
Eine globale Geschichte der Wissenschaft
Piper 2022, 592 S., Hardcover € 28