Wer unsere Zeit erlebt wie den berühmten Tanz auf dem Vulkan: Für die ist diese Lektüre genau das Richtige. Über 450 Seiten macht die Autorin, eine kalifornische Entwicklerin von Spielen zum Gestalten von Zukunft, fit für selbige.
Covid-Lehren
„Bereit für die Zukunft“ liest sich so frisch wie soeben gepresster Orangensaft und enthält etliche Anleitungen: zum Selber- und Weiterdenken aus Beispielen seines Lebens, der Leserinnen und Leser, mit viel Ansprache. Auch wenn man das umfängliche Werk bisweilen ermüdet zur Seite legen sollte, Sprache und Inhalte ziehen immer wieder erneut hinein. Doch, insgesamt, in unserer lesemüden Zeit: Die Hälfte hätte es auch getan, zusammen mit mehr optischen Anreizen.
Das Buch entstand während der Pandemie. Jane McGonigal verweist ausführlich auf alle Boten, die den Ausbruch ankündigten, und fragt, was wir aus den Fehlern davor und während Covid-19 für die Zukunft lernen, denn: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Gleichwohl wir Zeitgenossen, ganz egal wo auf der Welt, unsere Augen vor den Übeln der Welt lieber verschließen, vor Klimaerwärmung, sozialer Ungleichheit, Rassismus, sowie vor allen sie begleitenden Turbulenzen.
Diese global-multilaterale Ignoranz, die sich durch alle Instanzen zieht, soziale, politische, institutionelle, ist das größte Manko der Weltgesellschaft und verlangt energischen Gegeneinsatz, durch jede Einzelne und jeden Einzelnen – das sind Botschaft, Mission, Anliegen der Autorin.
Milliardärs-Verbot?
McGonigals Zukunfts-Methodik ist dicht, vielfacettig, aber grundsätzlich sehr einfach: Nutze deine Fantasie und imaginiere dich in eine Zukunft, wie du sie dir wünscht. Unternimm Zeitreisen in deine Zukunft, mit allen dir zur Verfügung stehenden Sinnen und Fasern: Stell dir Gerüche, Farben vor, Konstellationen, Figuren und deine eigene Rolle, schreib und träum darüber, schlüpf hinein in diese Welt von der Haarspitze bis zu den Zehen.
Stell dabei die Welt auf den Kopf, schüttle sie und die Konventionen kräftig durch, denk neu, zum Beispiel: Milliardärs-Verbot – jeder der mehr hat, zahlt die Bilanz als Steuern an den Fiskus und die Allgemeinheit. Das und viele andere Einwürfe der Autorin wären nach US-Vorstellungen von der Freiheit des Menschen geradezu kommunistisch, gleichwohl in ihrer Unkonventionalität, Frische, Ärmel hoch gekrempelt und angepackt, wiederum sehr amerikanisch: Alles ist machbar, Herr Nachbar!
Der Rezensent hatte beim Studium des Buches Beispiele aus seinem eigenen Leben vor Augen. Am Abend vorm ersten Sprung vom Dreier imaginierte er vorm Einschlafen sämtliche Details, wie er den Turm erkletterte, über das wippende Brett trippelte, ins karibisch-blaue Schwimmbecken blickte, hüpfte, im sprudeligen Wasser der Leiter entgegenschwamm, während der Sportlehrer ermutigend lächelte und ihm als Hilfe die Greifstange entgegenhielt.
Denkfesseln – weg!
Wer wecker- und handyfrei zu einer ganz bestimmten Zeit aufwachen muss, stelle sich alle ihm/ihr bekannten Uhren mit der Anzeige zu diesem gewünschten Zeitpunkt vor – Sie werden sekundengenau aufstehen. Für öffentliche Auftritte spiele man ein ähnliches Kopfkino durch, auch mit allen Ängsten, Pannen, wie man sie managt, vielleicht erweitert um ein Spiel mit Fingerpuppen und halblauten Dialogen. Dieser Film ist das Script für die Realität und genauso wird sie werden. Per intensiver Imagination programmieren wir uns – natürlich auch mit allen Sorgen und Reinfällen, wenn sie uns die unablässig im Kopf herumspuken und wir nichts gegen der Gift unternehmen.
Soweit der Crash-Kurs. Die Autorin empfiehlt ein Zukunftstagebuch, in dem das persönliche Zukunftsszenarium in allen Einzelheiten festgehalten wird und wie wir uns ihm nähern, auch in sozialer Vernetzung. Ihr Lieblingsterminus ist, „seine Denkfesseln abzustreifen“ und sich ins „Unvorstellbare“ trauen.
Dabei bleibt kein Stein auf dem anderen, wenn sie statt einer Schweigeminute eine „Heulminute“ vorschlägt, in der die Menschen alle ihre Sorgen herausheulen und im gemeinschaftlichen Heulen Solidarität, Zustimmung, Ermutigung erfahren, auch wenn einige Mitmenschen zwar komisch gucken, aber einem nichts Böses widerfährt.
Sonnen-Exit
Mit folgendem Szenarium erreicht die Freidenkerin bei Vielen vermutlich die Schmerzgrenze. Der Sonnen-Exit, mit Schwefelaerosolen in der Atmosphäre die Sonne zu verdunkeln, wie nach einem Vulkanausbruch, um die globale Erwärmung zu stoppen, und während eines zehnjährigen globalen Winters die Welt kompromisslos auf die post-fossile Schiene zu setzen.
Futurologen sind oft eine von sich eingenommene, sich leicht überschätzende Branche. Im Kleinen wie im Großen, oft kommt alles anders, als erwartet, inklusive wie von ihnen prognostiziert. So etwa dereinst der Fall der Berliner Mauer. Richtig ist auch, dass der Planet in Jahrmillionen stets zwischen Hitze- und Eisestod schwankte, dazwischen oft mit Ereignissen, die das ganze Klima auf den Kopf stellten – und mit ihm die Evolution. Nicht nur zu deren und unserem Nachteil.
Die Silicon-Valley Expertin hat zwar einen Cyber-Blackout auf ihrem Themenzettel, gegen den sie eine Vielzahl von Gegen-Apps empfiehlt, Außerirdische aber bleiben unerwähnt? Eine Hollywood-Schote? Nicht unbedingt. Die NASA hat neuerdings einen UAP-Chef (Unidentified Anomalous Phenomena) und der Vatikan schon seit Jahren eine geheime Task Force.
Posttraumatisch Wachsen
Warum greift diese Frau ansonsten bei so vielen anderen Themen nach den Sternen? Nicht nur, weil sie in den USA geboren wurde, wo das anders als in Deutschland Tradition hat, sondern weil sie ein Schädeltrauma mit Mühe überlebt hat und sie aus diesem ihr geschenkten Zweit-Leben Kraft und Vision bezieht. Diese Wende heißt „posttraumatisches Wachstum“, im Gegensatz zur posttraumatischen Störung. Sie widerfährt immerhin fast der Hälfte der Traumatisierten und lässt sich auch trainieren.
Wie die Autorin demonstriert, steckt hierin viel Energie und könnte auch jetzt in der postpandemischen Zeit zu neuen Aufbrüchen führen mit Lösung der gegenwärtigen Krisen.
Was für eine primitive Denke.
Di schreibst: „… gleichwohl in ihrer Unkonventionalität, Frische, Ärmel hoch gekrempelt und angepackt, wiederum sehr amerikanisch: Alles ist machbar, Herr Nachbar!“
Alles ist machbar: Ja, genau das haben vor allem die Amerikaner, aber auch der gesamte globale Norden gemacht: Alles gemacht, um die Erde zu zerstören. McGonigal (und ein Wolfgang Goede) glaubt offenbar, es sei okay, alles zu machen, nur weil man es kann (und nicht weil es notwendig wäre). Das Resultat: Klimaerwärmung.
Genau das kapieren Leute wie McGonigal nicht.
Weiter:
Die Menschheit ist vielleicht gerade einmal 2 Millionen Jahre alt. Noch vor 100.000 Jahren gab es gleichzeitig mehrere Menschen-Arten auf der Erde, nur eine hat sich durchgesetzt.
Erst seit 10.000 Jahren ist das Klima so stabil, dass sich sowas wie eine Zivilisation entwicklen konnte.
Als die Erde „zwischen Hitze- und Eisestod schwankte, dazwischen oft mit Ereignissen, die das ganze Klima auf den Kopf stellten“, gab es noch gar keine Menschheit!
Die entstand erst, als das Klima in Afrika relativ stabil wurde. Ihr Weg zum Höhepunkt begann am Ende der letzten Eiszeit – und ist vielleicht in ein paar Jahrzehnten auch schon zu Ende. Auch weil der Mensch nicht fähig ist, mit mehr als vielleicht 20 oder 50 anderen Menschen zu kooperieren.
Wenn es ums Überleben geht, ist jeder sich selbst der Nächste. Er/Sie wird kämpfen und töten, um an Wasser und Nahrung zu kommen.
Ansonsten dürften wir schon längst die Kontrolle verloren haben. Selbst bei 1,5 Grad werden Gebiete unbewohnbar.
Dabei sind für Deutschland sind schon alle Vorhersagen der früheren IPCC-Modellierungen überschritten: 2,7 Grad höher als 1880, 2,3 Grad höher als in der Paris-Referenzperiode 1961-1990.
In Deutschland wird es ungemütlich und einige Gebiete bald unbewohnbar, sagte jedenfalls der Präsident Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (basiert auf Daten des Umweltbundesamtes):
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/klimawandel-deutschland-unbewohnbar-101.html
Ein Drittel der festen Erde, auf der heute noch Menschen wohnen können, wird zwischen 2080 und 2100 unbewohnbar.
https://www.dw.com/de/temperaturanstieg-könnte-regionen-unbewohnbar-machen/a-65706527
Hier dazu ein gute interaktive Weltkarte für 2100: https://interaktiv.morgenpost.de/klimawandel-hitze-meeresspiegel-wassermangel-stuerme-unbewohnbar/
Hier der UN-Bericht von letztem Jahr. Auf S. 36 zeigt die Karte, welche Gebiete der Erde ab 2070 unbewohnbar sein werden:
https://reliefweb.int/attachments/1b9e280d-d877-4022-97bb-c10e2b0ffab6/OCHA_IFRC_extreme_heat_report_2022.pdf
Hier die „Nature“-Publikation, die der Grafik zugrunde liegt:
https://www.nature.com/articles/s41893-023-01132-6
Also: Bevor am solche komischen Bücher bespricht, bitte das Gehirn einschalten.