Jubiläum bei Radio Lora Wissenschaft Kontrovers. Die 25. WiKo Sendung im September 2023 widmete sich Krieg und Frieden, auch in Erinnerung an einen anderen Geburtstag: das legendäre Woodstock Festival 54 Jahre zuvor. Musikalisch trug es das bisher mächtigste Friedenssignal in und um die Welt. Die Songs der Zeit, „Gimme Shelter“ (Stones), „War“ (Edwin Starr), „Imagine“ (John Lennon) sind Weltmusikgut. Die Gäste der Jubiläums-Kontroverse: Franz Kohout, Dr. der Politologie, einst Kriegsdienstverweigerer, Mitbegründer der Grünen in Bayern, emeritierter Professor der Bundeswehruniversität; und: Fritz Letsch, Theaterpädagoge gegen Unterdrückung, Arbeitslosencoach, Lora-Moderator, überzeugter Anti-Militarist.
Recht auf Selbstverteidigung
Kohout berichtete eingangs über die 1970er Jahre, den schlechten Ruf der Bundeswehr, den Onkel in 12-jähriger russischer Gefangenschaft – „nein, da mache ich nicht mit“, sagte er und verweigerte den Dienst mit der Waffe. „Heute sehe ich das viel differenzierter.“ Reiner Pazifismus sei nicht darstellbar, wie viel eigene Forschungsarbeit gezeigt habe: „Das Recht auf Selbstverteidigung geht vor Verweigerung.“
Gleichwohl Krieg kein Mittel des Konfliktaustragens sei. Man müsse sich die Ursachen anschauen, die oft in unzulänglich ausgehandelten Friedensverträgen lägen, etwa dem von Versailles 1919. Während der Wiener Kongress 1815 nach den Napoleonischen Kriegen 100 Jahre lang den Frieden gesichert hatte. Die Lehre: Kriegsverlierer müssen respektvoll behandelt werden. Revanchismus ist Saat für den nächsten Krieg.
Kolonial-Erbe
Für den Krieg Russlands gegen die Ukraine sieht Kohout kein baldiges Ende. „Offensichtlich gibt es noch nicht genug Opfer.“ Ein Waffenstillstand, in drei Jahren? – auch abhängig vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen 2025.
Letsch warf auf Krieg und Frieden einen grundsätzlicheren Blick. Den Militarismus sieht er als Grundstruktur vergangener wie auch noch heutiger Gesellschaften. Der mit militärischer Gewalt erfolgte Kolonialismus der europäischen Staaten hätte zum anhaltenden Unfrieden in der Welt beigetragen. Beispiel dafür sei u.a. Afrika, wo willkürlich gezogene Grenzen Stämme entzweiten und massiv internen Konfliktstoff lieferten, bis zum heutigen Migrationsdruck auf Europa. Abzuwarten sei, ob und wie das wachsende Global-Süd-Bündnis, die BRICS-Staaten diese Spannungen auflösten.
Militärisch-Industrieller Komplex
Als historisches Relikt aus dem Militarismus verwies Letsch auf die Sektsteuer, mit der Wilhelm II. den Bau der kaiserlichen Kriegsflotte mitfinanzierte, die nicht nur dem deutschen Anspruch auf „einen Platz an der Sonne“ – Kolonien – Nachdruck verhalf, sondern im wachsenden Konflikt mit der Seemacht England auch zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beitrug. Lukrative Waffengeschäfte destabilisierten bis heute den Frieden. Insgesamt, so Letsch, seien wir infolge eines Jahrhunderte währenden Militarismus auf einen Befehlston geeicht.
Kohout ergänzte das Waffen-Argument mit dem Hinweis auf den sogenannten „Militärisch-Industriellen Komplex“, vor dem bereits Eisenhower in den 1950ern gewarnt hatte. Aber auch hierbei sei Differenzierung geboten, meinte er, weil schwer nachweisbar sei, ob jene Allianz Kriege ausgelöst hätte.
Gefahr Nationalismus
Der Politologe gab Letsch darin Recht, dass wir verstärkt anti-militärische Strukturen bräuchten, hinterlegte aber, dass wir in Deutschland insgesamt auf gutem Wege dorthin seien, so wie wir im Aufarbeiten des Faschismus ein großes Stück weitergekommen seien, auch dank zivilgesellschaftlicher Bemühungen.
Die Frage, ob die Polarisierung zwischen politisch Rechts und Links ein zunehmender Konfliktherd sei, verneinte Kohout. Die größte Gefahr sieht er im wachsenden Nationalismus. Auch für Letsch: kein Thema. Kardinal für mehr Frieden und weniger Unfriede sind für ihn grundsätzliche Verhaltens- und Lebensweisen: Selbstorganisation, Befreien von Zwängen, alles, was Leben lebenswert macht wie Buen Vivir.
Klimakonflikte
Kohouts abschließende These: Infolge der Klimakrise steht die Welt vor erheblichen Konflikten, auch deshalb, weil Keiner auf seinen Lebensstandard verzichten wolle. Co-Moderatorin Lisa Popp resümierte und appellierte: „Keine eigenen Süppchen kochen! Die Probleme lassen sich nur gemeinsam lösen, über internationale Zusammenarbeit, Beziehungen, Freundschaften.“ Der Friede, ergänzte das Panel einvernehmlich, beginne in der Nachbarschaft, Community, Familie, werde letztlich zuhause erlernt und kultiviert.
Und hier, zum Nachhören, die gesamte Sendung im Original als Podcast
Am 7. Dezember greift Lora WiKo München 92,4 eine weitere Kontroverse auf: Sterbehilfe. Stay tuned!
Edit: Der Link zu „Susanne Grabenhorst (2015): Das friedliche Gehirn?“ ist fehlerhaft. Er lautet richtig: https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/das-friedliche-gehirn
## 1. Friede beginnt daheim
> Die Probleme lassen sich nur gemeinsam lösen,
> über internationale Zusammenarbeit, Beziehungen,
> Freundschaften.“ Der Friede, ergänzte das
> Panel einvernehmlich, beginne in der Nachbarschaft,
> Community, Familie, werde letztlich zuhause erlernt
> und kultiviert.“
Das ist naiv – und das Gegenteil von Frieden lernen.
Friede ist keine Frage des Lernens. Es ist eine Frage von Gerechtigkeit: Von gerechter Einkommens- und Vermögensverteilung, von Armutsbekämpfung, von Wertschätzung, von Inklusion (z.B. Migranten, Behinderte, Staaten (auf politischer Ebenes z.B. hat die Exklusion und Marginalisierung Russlands hat eine lange Historie – aber das ist ein anderes Thema)).
Gruppen – wie Nachbarschaft, Community, Familie – neigen immer dazu, nur nach innen zu kooperieren. Nach außen treten Gruppen aggressiv auf, um die eigene Identität als Gruppe, den eigenen Wohlstand, die eigenen Errungenschaften, den eigenen Besitz zu schützen und zu verteidigen. Aggression dient dem Erhalt von Bindungen und das Risiko für Aggression steigt, wenn der Zusammenhalt einer Gruppe von innen oder außen bedroht ist. Das nennt sich reaktive Aggression.
Nicht nur das: Es gibt bei den Menschen (v.a. Männern) auch die appetitive Aggression, die Lust an der Jagd und am Töten anderer Menschen. Das haben Anthropologen vielfach nachgewiesen in aktuellen Stammeskulturen im Amazonas-Regenwald, beim Völkermord in Ruanda, und bis zurück in die Steinzeit bei Gräbern am Turkana-See in Kenia.
Appetitive Aggression ist ein phylogenetisches Relikt des Menschseins, soziologisch vielfach erforscht, zusammengefasst bei Thomas Elbert et. al. (2017): Lust for violence: Appetitive aggression as a fundamental part of human nature. Elbert ist Physiker, Mathematiker und Psychologe am Kompetenzzentrum Psychotraumatologie der Universität Konstanz. https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/nf-2016-A056/html
In diesem Zusammenhang interessant ist auch das Interview mit Joseph Vogl von 2003: Warum brauchen Völker Feinde? Vogl hat den Lehrstuhl für Literatur- und Kulturwissenschaft und Medien an der Humboldt-Universität Berlin. https://www.dctp.tv/filme/10-vor-11-03-02-2003?thema=joseph-vogl
Oder aus neurologischer Sicht: Susanne Grabenhorst (2015): Das friedliche Gehirn? Friedensforum 2/2015. Grabenhorst ist Ärztin für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie bei Ärzte gegen den Atomkrieg: https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/das-friedliche-gehirnbefähigt
Und wie „internationale Zusammenarbeit“ funktioniert, sehen wir ja am Beispiel des Pariser Klimaabkommens: Kein Staat hält sich dran.
## 2. Wissenschaft, Militär, Kolonialismus, Kapitalismus
> Als historisches Relikt aus dem Militarismus
> verwies Letsch auf die Sektsteuer, mit der
> Wilhelm II. den Bau der kaiserlichen Kriegsflotte
> mitfinanzierte, die nicht nur dem deutschen
> Anspruch auf „einen Platz an der Sonne“ – Kolonien –
> Nachdruck verhalf, sondern im wachsenden Konflikt
> mit der Seemacht England auch zum Ausbruch des
> Ersten Weltkriegs beitrug. Lukrative
> Waffengeschäfte destabilisierten bis heute den
> Frieden. Insgesamt, so Letsch, seien wir infolge
> eines Jahrhunderte währenden Militarismus auf einen
> Befehlston geeicht.
Eine ziemlich oberflächliche und enttäuschende Analyse, finde ich.
Es wäre sowohl für die 25. WiKo-Sendung, als auch für die Wissenschaftsdebatte relevanter gewesen, wenn irgend jemand die Verbindung von Krieg und Wissenschaft wenigstens thematisiert oder zumindest angerissen hätte.
### 2.1 Wissenschaft und Militär
Die kaiserliche Flotte versuchte seit ihrer Gründung 1872, ihren militärischen Auftrag immer auch mit wissenschaftlicher Forschung zu verbinden! Und das tat sie nach 1918 immer noch, sogar unter der Flagge des Kaiserreichs mit dem Kanonenboot „Meteor“ und der Atlantikexpedition 1924 bis 1927.
Ab 1874 forschte die „Gazelle“ entlang der afrikanischen Westküste, am Kap der Guten Hoffnung, bei den Kerguelen, Mauritius, Südsee, Australien, Magellanstraße. Später dienten auch die Kriegsschiffe „Hyäne“, „Möwe“ und ab 1906 die „Planet“ als Forschungsschiffe (Bismarck-Archipel, West- und Ostafrika, Malediven, Philippinengraben mit Entdeckung des Galatheatiefs, Sundagraben mit Entdeckung der Planettiefe, Deutsch-Neuguinea).
### 2.2 Kolonien und Handel
Unter Wilhelm I. und Bismarck hatte Deutschland überhaupt kein Interesse an Kolonien. Bismarck lehnte Kolonien für Deutschland sogar zunächst vehement ab.
Erste staatliche, koloniale Erwerbungen gingen von Österreich aus (1857 reiste die „Novara“ reiste zu den Nikobaren). Ab 1859 stieg dann auch Preußen halbherzig in den Kolonialismus ein, als die „Thetis“ gen Formosa und Patagonien reiste.
Damals setzte die Politik aber noch nicht auf den Erwerb von Kolonien, sondern nur auf einzelne Marinestützpunkte. Dazu brauchte sie übrigens manchmal auch den Schutz der britischen Royal Navy. Zu einem „Konflikt mit der Seemacht England“ kam es erst nach 1900. Beim Tausch von Helgoland gegen Sansibar 1890 zeigte sich noch, dass Deutschland und England gut miteinander klar kamen. (Sansibar war übrigens nie deutsche Kolonie, sondern bis 1890 ein freies Sultanat! Da hat Preußen England über den Tisch gezogen.)
Allerdings waren Hamburger Kaufleute schon seit dem frühen 19. Jahrhundert vor allem in Afrika tätig und errichteten Handelsstationen und Siedlungen – ganz ohne staatliche Unterstützung.
Erst der Hamburger Kaufmann Adolph Woermann überzeugte 1883 Bismarck in einer Denkschrift, dass auch Deutschland Kolonien haben müsse. Dabei dachte er an „Schutztruppen“, um seine Handelsniederlassungen zu schützen. Als gewitzter Kolonial-Lobbyist wurde er denn auch ziemlich schnell Bismarcks Berater.
1888 kam die Forderung der Hamburger Kaufleute den militaristischen Gelüsten des neuen Kaisers Wilhelm II sehr zupass. Aber erst ab 1900 wurde die Marine zu einer der größten und modernsten Kriegsflotten der Welt – geopolitisch aber weitgehend wirkungslos!
Den Spruch vom „Platz an der Sonne“ gab es erst 1897 (von Bülow, damals noch Staatssekretär im Auswärtigen Amt). Da waren die deutschen kolonialen Unternehmungen bereits in vollem Gange, die Claims abgesteckt.
Mehr dazu: Axel Grießmer (2000): Die Kaiserliche Marine entdeckt die Welt. Forschungsreisen und Vermessungsfahrten im Spannungsfeld von Militär und Wissenschaft (1874 bis 1914). Militärgeschichtliche Zeitschrift Vol. 59 (2000), Heft 1: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1524/mgzs.2000.59.1.61/html