Wenn geniale Ökonomen, begnadete Politiker aller Couleur, Banker und Philosophen sich am Kapitalismus bereits die Zähne ausgebissen haben, wie Toni Andreß in seinem Postkapitalistischen Manifest anmerkt – können seine 500 Reform-Seiten den Karren aus dem Sumpf ziehen?
Teufel und Engel
Nicht so richtig. Es scheint, als ob wir bei allen neuen Ideen und Impulsen mit dem Kapitalismus geschlagen wären, so wie das Mittelalter mit dem Teufel, schlimmer: Als ob wir alle, jede und jeder mit unserem ressourcen-raubenden Wirtschaftssystem, willentlich auch unwillentlich, unlösbar verzahnt wären.
Der Wirtschaftsjurist Andreß spult, ebenso kenntnisreich wie klar strukturiert, leicht lesbar mit Quellen und Erläuterungen auf kapitalen 166 Seiten, viele der heutigen Wirtschaftssünden ab und offeriert dazu Alternativen und Handlungsempfehlungen. Das ist wissenschaftlich rechtschaffen, populär und verständlich verfasst, ein Engelsdienst, aber erreicht er damit seine Leserschaft?
Grundeinkommen – viele Versuche weltweit
Sein Kern, die Freiwirtschaftslehre, wird insgesamt nur ungenügend erklärt. Ihre Entstehung in der Antike und Blütezeit im Barock, die Renaissance Anfang des 20. Jahrhunderts, ihre Brücken zu anderen und konkurrierenden Wirtschaftstheorien, darüber wünschte man sich größere Tiefenschärfe. War und ist die soziale Markwirtschaft ihr Baby? Unter Druck geraten durch Reagans und Thatchers Neoliberalismus, die nicht ganz zu Unrecht überbordende staatlicher Regulierung aufs Korn nahmen, die ganz besonders in Deutschland grassiert, wo jedes Schräubchen normiert wird und Innovation behindert?
Freiwirtschaft schlägt sich offensichtlich auch im Postulat vom bedingungslosen Grundeinkommen nieder. Dies ist eine der Lesefrüchte, wie erstaunlich gut diese Maßnahme weltweit ankommt. Es wurde und wird auf regionaler Basis in vielen Weltgegenden (USA, Finnland, Afrika) eingeführt. Man möchte dem Autor folgen, dass das lang diskutierte Grundeinkommen durch Steuerumschichtungen sich auch in ganz Deutschland finanzieren ließe, wodurch vermutlich viel andere sozialausgleichende Bürokratie und Überlagerungen abgeschafft werden könnten. Was nur fehlt sind Kritik und Gegenstimmen.
Insekten-Food und 3-D-Fleisch
Bestürzend stimmt Andreß‘ Exkurs über weltweite Sklaverei in riesigem Ausmaß, in etlichen Varianten. Ist sie eine Frage der Ökonomie? Oder auch der (fehlenden) Demokratie und scheinbar unerschütterlichen autokratischen Herrschaftssystemen, des Rechtssystems, der Ethik? Auch dies bleibt eher unscharf, ob gerechtere Wirtschaft allein zu resilientere Demokratie führte, oder ob Demokratieverdrossenheit nicht tiefer geht.
Beim Schutz der Umwelt und alternativen Energien deckt das Buch eine reichhaltige Tafel von Maßnahmen auf. Kunstfleisch aus dem 3-D-Drucker und Insekten-Food, Brennnessel-Suds, aus Schimmelpilzen gebraute Milch, Kraftstoffe aus den unfassbar großen Algenschätzen der Meere. Man müsste das nur mehr fördern, aber wer macht’s?
Ohne freies Unternehmertum, das hierin eine Verdienstmöglichkeit entdeckt, geht’s wohl nicht, außer vielleicht Planwirtschaft (die der Autor eigentlich ablehnt) und staatlichen Interventionen. Gutes Wirtschaften bleibt ein Balanceakt mit Checks und Balances, so wie die Demokratie.
Zukunft: neutrino-voltaisch?
Wenn Andreß sich für ein weltweites Verbot der AKWs ausspricht, mag man über den Realismus dieser Maßnahme lächeln, angesichts der historischen Machtlosigkeit der UN. Wenn er die Hoffnung auf Fusionskraftwerke zu unterschreiben scheint, mag auch hier eine Fehlwahrnehmung mitschwingen. Wenn schon Neutrinovoltaik thematisiert wird, sollte auch die künstliche Photosynthese nicht fehlen, vor allem auch grüner Wasserstoff, scheinbar so einfach, aber auch forscherisch noch Zukunftsmusik.
Und warum eigentlich brauchen so viele Menschen Autos? Bei diesem Tanz ums goldene Kalb hätte man sich vom Autor deutlichere Worte gewünscht. Aber dann wiederum, wenn das Autoland Deutschland sich in Frage stellt, womit werden Arbeitsplätze, Steuereinnahmen, Prestige ersetzt?
Spinne im Netz
Wirtschaft ist ein Moloch, die Spinne im Netz, wir ein Teil davon. Zum einen müssen wir sie noch besser verstehen lernen, zum anderen mit mutigen neuen Initiativen bereichern, Wirtschaft letztlich als konstituierenden Teil und Grund einer in vielen Weltteilen mangelhaften Demokratie begreifen.
Andreß‘ Buch gibt auch in der Kritik am Werk viele Anstöße.