Wie man es dreht und wendet. Der Sterbewunsch in Deutschland ist kein leichter, wenn der oder die dazu Entschlossene nicht selbst Hand an sich legen, sondern begleitet in den Suizid gehen möchte. Immerhin, wir haben in den letzten Jahren gelernt, darüber zu sprechen und ethisch gibt es zumindest in unserem Kulturkreis nur noch wenige Bedenken. Eines der größeren indes scheint die „Bürokratisierung und Prozeduralisierung“, wie der Theologe Reiner Anselm in Radio Lora Wissenschaft kontrovers erklärte.
Kompliziert wie eine Steuererklärung
Der Lehrstuhlinhaber an der LMU München verglich die Sterbezulassung mit den Komplikationen einer Einkommenssteuererklärung. Auch hier, die vertraute „deutsche Regulierungswut“, ergänzte Moderator Günter Löffelmann, der sich professional und publizistisch ausführlich mit dem Thema auseinandergesetzt hat.
Sterbehilfe kennt vier Formen. Die passive durch den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen; die indirekte durch die Gabe von schmerzlindernden, eventuell lebensverkürzenden Medikamenten; die assistierte in Form von Hilfe bei der Selbsttötung; und die aktive durch Verabreichen tödlicher Medikamente, was in Deutschland illegal ist und juristisch als Tötung auf Verlangen gilt, wie Co-Moderatorin Lisa Popp im Themeneinstieg berichtete.
Insgesamt finden alle Formen breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung, zwischen 72 und 85 Prozent, mit steigender Akzeptanz. Für den deutschen Ethikrat ist jede und jeder Einzelne frei verantwortlich für Leben und Tod und auch der Ärzteschaft ist Sterbehilfe nicht mehr untersagt.
Leben als Recht und Pflicht
„Wo ist die Kontroverse?“, wollte Löffelmann wissen. Worauf der Studiogast diverse limitierende Faktoren ansprach, die Untiefen und Grenzen der Sterbehilfe sichtbar machten. Hier die fünf wichtigsten.
PRÄVENTION Auch wenn wir mit dem Thema unseren Frieden gemacht haben sollten, ist das wichtigste überlagernde Thema die Prävention, dass der Suizid-Gedanke erst gar nicht aufkommt und, wenn ja, auf- und abgefangen werden kann. Das gestaltet sich schwierig, weil die Absicht oft spontan, ohne langes Abwägen entsteht und auch umgesetzt wird.
MENTALGESUNDHEIT Komplizierend hinzu kommen die Anteile aus der Mentalgesundheit mit psychischen Erkrankungen, bei denen der Suizid ein wesentlicher Teil der Krankheitssymptomatik sein kann. Einer neueren Denkart zufolge lassen sich einige psychische Störungen in ihrer Tiefe einer Tumorerkrankung gleichstellen, die Sterbehilfebedenken relativieren.
DRUCKFREIHEIT Die Gesellschaft müsste einem möglichen Trend entgegentreten, dass Suizid zum Normalfall für Sterbende wird. Es darf keinen gesellschaftlichen Druck hierzu geben. Aber auch das Gegenteil, die Verlängerung und „Ökonomisierung des Sterbens“, ist verwerflich (in salopper Krankenhaus- und Altenheimsprache: „nur ein warmes Bett ist ein bezahltes“).
SCHUTZMAUER Bei aller Zustimmung und Regulierung brauchen wir eine Schutzmauer, dass kein Mensch in das Leben eines anderen eingreifen darf. Entgegen kriminell-ideologischer Verirrungen, wie bspw. Euthanasie im Dritten Reich, ist Leben ein Recht und eine Pflicht.
UNVERFÜGBARKEIT Historisch und kulturell ist die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens ein Gebot, im jüdischen und muslimischen Glauben, aber auch im christlichen. Selbstmörder wurden nicht auf dem Friedhof bestattet, weshalb im Mittelalter Gläubige trotz großen Leids aushielten, bis sie der Tod erlöste (was in der modernen säkulären Welt wenig nachvollziehbar erscheint).
„Reden, reden, reden!“
Das Lora-Gespräch machte deutlich, dass das Todes- und Sterbetabu sich deutlich gelockert hat, auch wenn es kaum ein öffentliches Thema ist. Wer sich betroffen und davon angesprochen fühlt, so Anselms Empfehlung, sollte „reden, reden, reden“. Mit Freunden, in der Familie, in Selbsthilfegruppen, auch Seelsorgern. Er vertrat das Ideal einer offenen Kultur, ohne Tabus, Respekt für das Leben, aber auch den Todeswunsch. Oder wie er eingangs spontan formuliert hatte:
„Assistierter Suizid ist ein letzter Anker zur Wahrung der Persönlichkeit, wenn alles andere nicht mehr funktioniert.“
© Foto LMU München, Evang.-Theologische Fakultät Abtlg. für systematische Theologie