Gockel oder Ei?

Die ewige Frage nach Henne oder Ei ließe sich mit der britischen Anthropologin und Hühnerfreundin Sally Coulthard ganz machohaft mit „Hahn“ beantworten. Das männliche Geschlecht der Hühner gilt seit der Urzeit als Inbegriff von Stolz, Schönheit, Kampfesgeist. Davon zeugen die bis heute zelebrierten Hahnenkämpfe. Der Gockel frühes Krähen galt als Zeichen eiserner Disziplin, inspirierte Krieger, so wie der Hahn auf dem Kirchturm uns Mut signalisiert. Wenn da sein weibliches Pendent die Henne nicht wäre!

Zwischen Kloakenkuss und Gottesstatus

Das feminine Geschlecht gilt als kooperativ, Pazifistin, und hat dem Gockel durch die selektive Wahl weniger aggressiver Begattungspartner sozusagen den Zahn, pardon Penis gezogen. Der verkümmerte offensichtlich in der über 60 Millionen Jahre langen Evolutionsgeschichte des Federviehs, so die These der Autorin und der Hühnerforschung. Der Begattungsakt ist der sogenannte „Kloakenkuss“, bei dem Hahn und Henne für den Besamungsvorgang zwei Körperöffnungen aufeinanderpressen. Dabei findet der männliche Part in Abwesenheit eines Penis keinen Halt, eiert herum, weshalb er sich am Hals der Partnerin festklammert. Deshalb erscheint der eigentlich harmlose Akt aggressiver als er tatsächlich ist.

Insofern hat die Henne im Hühnerstall weiterhin das Krönchen auf, die ja auch die von unserer Frühstückstafel nicht wegdenkbaren Eier liefert. Nicht nur an Ostern, ganzjährig und rund um den Globus gelten sie als Symbol der Fruchtbarkeit, Geburt, Schöpfung, ja erreichen sogar Gottesstatus.

Das Buch Am Anfang war das Huhn überrascht mit vielen Infos, die den meisten Eier- und Hühneressern unbekannt sein dürften – hier die spannendsten aus der großen Fülle:

  • Hühner sind in einer Zwergstatur des Tyrannosaurus rex die Überlebenden der Dinosaurier. Klein, agil, mit Schnäbeln zum Knacken harter Nahrung überlebten sie den Asteroideneinschlag vor 66 Millionen Jahren, dem die Urzeitwesen und ein großer Teil der damaligen Natur zum Opfer fielen.
  • Hühner waren wie die meisten Vögel bis ins 20. Jahrhundert eine Mahlzeit an den Fürstenhöfen und der Reichen. Als besondere Leckerbissen galten kastrierte und gemästete Hähne, der Kapaun. Durch grausame Schnitte an den Rippen wurden den Hähnen die innenliegenden Hoden entfernt, was viele nicht überlebten.
  • Eierschalen waren das Mittelalter hindurch mit dem Aberglauben behaftet, dass darin der Teufel hauste.
  • Mit den polynesischen Seefahrern Hühner und Eier über den großen weiten Pazifik reisten bis zu den Osterinseln. Funde von Hühnerknochen bezeugen, dass die Insulaner von dort an die Küsten Südamerikas übersetzten, und zwar noch bevor die spanischen Konquistadoren über den Atlantik zum Kontinent gelangten. 1492 war Kolumbus nach den Wikingern (um 1000 u.Z.) und den Polynesiern (um 1400 u.Z.) gerade erst der dritte Entdecker.
  • Hühner besitzen hohe Intelligenz, können sich Zahlen merken, haben einen Sinn für Ästhetik. Männchen können Gegner mit machiavellistischen Finten ausschalten, Weibchen vererben ihren Platz in der Hackordnung an ihre Nachkommen. Hühner sind so empathisch, dass sie wie Hunde, Katzen, Pferde auch zur Therapie herangezogen werden.
  • Versuche mit dem Einpflanzen von Zähnen auf gut durchbluteten Hahnenkämmen waren Impuls und Schule für Zahnimplantationen.
  • Die große Anzahl von Juden in New York und ihr Verlangen nach koscherem Fleisch popularisierte Hühnerfleisch auch in der allgemeinen Bevölkerung. Im zweiten Weltkrieg entstanden in den USA Hühnerfarmen im großen Stil für die Ernährung der GIs. Deutsche Kriegsgefangene wurden vornehmlich dort eingesetzt.
  • Ab den 1950er Jahren nahm der Hühnerkonsum weltweit schlagartig zu, Tendenz weiter steigend. Mit 20 Milliarden Hühnern kommen heute drei auf jeden Erdbewohner. Allein die Deutschen verzehren pro Kopf über 13 Kilo Geflügelfleisch pro Jahr. Durch züchterische und genetische Tricks setzen die Tiere immer mehr Fleisch an und sind in immer kürzeren Zyklen schlachtreif. 

Die mit Hühnern aufgewachsene Autorin macht aus ihrem Unwillen über die Exzesse moderner Agrarwirtschaft und Fleischproduktion keine Mördergrube. Sie wundert sich über unser Entzücken über die so niedlichen Küken, die uns indes nicht abhalten, Hühnerkeulen und Flügel aus dem Fast-Food Bizz gleich eimerweise zu verzehren. Und noch eine Spitze: Im Ofenrohr findet der Broiler mehr Platz als in der Legebatterie.

Tierleid und Agrarwahnsinn

Das Buch ist ein ebenso unterhaltsamer wie ernsthafter Beitrag zu einem großen Ernährungsthema unserer Zeit. Sehr sachlich, „very British matter of fact“, polemisch nur am Rande, aber mit genug Anstoß für die Debatte über Chicken Food und Tierleid, Agrarwahnsinn oder sinnvolle Welternährung. Das Buch war vermutlich harte Arbeit für die Übersetzerin, die die Anglozentriertheit mit vielen deutschen Bezügen und zusätzlichen Fußnoten ausbalanciert. Zeichnungen zu den diversen Hühnerrassen im Buch lockern den Text weiter auf, wohingegen das Buchcover im Vergleich mit dem heute üblichen Design eher schal erscheint. Der englische Originaltitel mit Hinweis auf die Dinosaurier macht neugieriger auf die 277 Textseiten (plus 24 mit Quellennachweisen) als der deutsche Titel.

Sally Coulthard: Am Anfang war das Huhn. Geschichte eines Charaktertieres. Aus dem Englischen von Andrea Kunstmann. HarperCollins Deutschland, Hamburg 2024

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