Bitte stören!

Zeiten der Umbrüche und Unwägbarkeiten begleiten zwei prominente Publizisten in ihren aktuellen Büchern. Der eine ist der als TV-Moderator bekannt gewordene Michel Friedman, ehemaliger Herausgeber der „Jüdischen Allgemeinen“; der andere Philipp Peyman Engel, aktueller Chefredakteur selbiger Zeitung. Beide sind deutsche Juden und präsentieren ihre Sicht auf Deutschland, provokativ: Ersterer vor dem 7. Oktober 2023, Letzterer danach.

Mut zu vielen Wenden

In Schlaraffenland abgebrannt hält Friedman Deutschland einen Spiegel vor, der für die meisten Bürgerinnen und Bürger unangenehm sein dürfte und dessen Bild allzu gerne verdrängt wird. Mit der Pandemie ist Deutschland in eine tiefe Krise gerutscht. Die Nachwirkungen ebenso wie der Krieg in der Ukraine, das anhaltende Flüchtlingsproblem, Gewalt und Messerattacken verlangen nach einer neuen Politik. Unterm Schirm der westlichen Verbündeten nach dem Zweiten Weltkrieg, das Wirtschaftswunder, die Wiedervereinigung und die Europäische Union haben die Illusion des Lebens in Milch und Honig erzeugt: „In Watte gepackt, bitte nicht stören“, spitzt der Autor die Lebenserwartung vieler zu.

Hieraus erwacht Deutschland langsam und verhalten gequält. Als Reaktion hierauf wenden sich Wählerinnen und Wähler, dem Gesetz der Krise folgend, zunehmend den extremen Parteien zu.  Gleichzeitig treten Risse und Defizite in der „Wohlfühlblase“ deutlicher hervor. Als Donnerschlag wirkte während der Fußball-EM 2024 die weltweite Kritik am Vorzeigeland „German Engineering“: die katastrophal pannenhafte Verkehrsinfrastruktur mit dem unzuverlässigen Bahnverkehr, in München so viele Jahre Alltag, sodass sich keiner mehr darüber aufregen mag. Ob Internet und Digitalisierung, Bildung, Verteidigung, Fachkräfte … Deutschland hinkt hinterher. Und wie!

Friedman will uns auch nicht vom Widerhaken der Vergangenheit lassen: die ungenügende Reflexion der NS-Vergangenheit, die Übernahme politisch inkriminierter DDR-Bürger in den Staatsdienst, bei der EU-Gründung die fehlende europäische Armee für eine geregelte Außenpolitik. Der Defizite sind viele. Lösungen hat Friedman keine, außer die Selbstermächtigung rund um Angst und Freiheit, garniert mit den Zitaten großer Philosophen. Im Schulterschluss mit Hannah Arendt, dass wir frei sind, frei zu sein, radikal frei sogar, was mit um so mächtigeren Ängsten behaftet ist, die aber jeder für sich selbst klären muss. Nur hieraus erwächst der Mut zu Wenden in eine neue Zeit. Das alles hat Bundeskanzler Scholz verschwiegen, als er die Deutschen Anfang 2022 auf eine „Zeitenwende“ einzuschwören versuchte. Viele, viele Wenden verlangt das Land.

Deutsche Schuld

Diese philosophische Meta-Perspektive ergänzt Peyman Engel in Deutsche Lebenslügen um eine sehr persönliche. Die Flucht der Eltern aus dem Iran wegen Progrome nach Deutschland, seine eigenen antisemitischen Erlebnisse in der Schulzeit im Ruhrgebiet, den im Laufe der Jahre zunehmenden Judenhass in Deutschland, besonders durch die eingewanderten Muslime, seine unangenehmen Begegnungen mit politischen Amtsinhabern wie Claudia Roth oder Frank-Walter Steinmeier, die vorm Antisemitismus die Augen verschließen, diplomatisch herumeiern, sich aus wirtschaftlichen Gründen an israelfeindliche Regime anbiedern.

Seine Berichte über die Terrorattacke der Hamas auf Israel am 7. Oktober rütteln auf und zeugen von unerträglicher Grausamkeit der Angreifer. Der Autor vermisst als Reaktion darauf die breite und tatkräftige Solidarität Deutschlands und kritisiert insbesondere das Schweigen der Linken und deren Unterstützung Palästinas. Im Text erscheint immer wieder der Begriff „postkoloniale Linke“. Sie lastet den europäischen Völkern den historischen Kolonialismus an und sieht in Israel eine Verlängerung der weißen Herrschaft über die Welt. Das ist keine deutsche Eigenart. Die Proteste auf die israelischen Maßnahmen gegen die Palästinenser im Anschluss an das Oktobermassaker halten US-Universitäten in Atem. Weder Israel noch Deutschland oder die USA sind für Juden noch eine Zuflucht, beklagt der Autor.

Der Antisemitismus ist Fakt, doch man wünschte sich eine differenziertere Betrachtung. Als Lehre aus dem Nationalsozialismus hat Deutschland das Asylrecht im Grundgesetz verankert. Das sichert den Zugang von Flüchtlingen, viele darunter aus den muslimischen Ländern, die hierher zum großen Teil den offenen Antisemitismus getragen haben. Diese Historie sowie die weitgehend offenen Grenzen Europas machen es bisher fast unmöglich, den Zuzug zu kontrollieren. Gleichwohl, kein Zweifel, Deutschland mit der Gründung Israels 1948 auch aus dem Holocaust heraus für das Land und sein Wohlsein eine besondere Verantwortung trägt.

Erbe des Kolonialismus

Deutschland hat gelernt aus dem Zivilisationsbruch. Aktion Sühnezeichen etwa schickt seit 1958 Freiwillige als Wiedergutmachung in Kibbuze, jüdische Einrichtungen, Länder die unter der Nazi-Herrschaft gelitten haben. Die Aufarbeitung hält bis heute an in Wirtschaft und Sport. Unlängst hat die Keksfirma Bahlsen ihr opportunistisches NS-Gebaren öffentlich gemacht, desgleichen der Deutsche Ruderverband den Antisemitismus seines damaligen Vorsitzenden, während Vereine wie die Frankfurter Germanen die Lebensläufe damaliger Mitglieder durchleuchten und feststellen, dass unter den Falken auch viele Tauben waren.

In diese Aufarbeitungsarbeit reiht sich auch die postkoloniale Debatte ein. Sie ist eine wichtige zum Begreifen der Vergangenheit und verdient nicht, diskreditiert zu werden, siehe allein was der Kolonialismus bis heute in Afrika in Asien, in Amerika angerichtet hat (Eine afrikanische Geschichte Afrikas, Der Fluch der Muskatnuss), alles auch im Namen des Christentums. Hat sich doch der heute wieder so volatile Rassenhass speziell aus dem europäischen Kolonialismus und christlichen Glauben gespeist. Die Zahlen sind horrend: 12,5 Millionen als Sklaven nach Amerika verschleppte Afrikaner, 50 Millionen an den Folgen des Kolonialismus gestorbene Ureinwohner in den Amerikas, 100 Millionen Tote infolge des britischen Kolonialismus in Indien, nur um wenige Opfer zu beziffern … Letztlich wäre auch ein Blick auf Israel selbst geboten gewesen, über die Siedlungspolitik und die Proteste der Israelis gegen die eigene Regierung und Politiker, die sich oft genug den Vorwurf von undemokratisch gefallen lassen mussten. Weniger schwarz, weniger weiß wäre konturenreicher und tiefenschärfer gewesen.

Letztlich beantwortet Peyman Engel die offene Frage Friedmans nach Freiheit, Angst, Verantwortung, und zwar sehr couragiert: Hier in Deutschland sei sein Platz, hier gehöre er her. Wer das nicht wolle, solle die Koffer packen, nicht er. „Ich werde kämpfen.“

Zeit für Säkularisierung

Das führt uns inmitten des aktuellen Kultur- und Religionskampfes. Aber müssten wir nicht tiefer denken? Ist unser Problem nicht eher trilateral, wie eine Pyramide, die sich aus drei verschiedenen Seiten ziegen lässt, immer anders? Oder noch anders, sind wir nicht verhakt wie eine Erdbebenspalte, etwa eine San Andreas Fault, in der sich die drei Weltreligionen aneinander reiben. Bis zum nächsten Beben. Wieviel religiöses Unheil hat die Historie bereits auf sich geladen. Liegt die Lösung nicht auf einer anderen Ebene – heißt Friedmans Appell am Ende nicht auch das Freisein mit Mut zu umfassendem Neudenken, Denkräume sprengen, darunter Impulse zur Säkularisierung, Entschärfen des Hasses aufeinander und um die „richtige“ Religion?

Michel Friedman: Schlaraffenland abgebrannt. Von der Angst vor einer neuen Zeit. Berlin Verlag Berlin/München 2023

Philipp Peyman Engel: Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch. dtv München 2024

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