Wenn Tote rülpsen und Steife kriegen

Dieses Werk über die Gerichtsmedizin schlägt einen weiten Bogen. Von den ägyptischen Mumien und wie deren Konservierungsstoffe von Apothekern zu begehrten Medikamenten verarbeitet wurden bis zum heutigen Dilemma der Profession: dass zumindest in Wien, dem früheren Zentrum medizinischer Forschung, künftige Ärzte kaum mehr etwas über diesen Spezialzweig der Medizin lernen. Womit er eher zum Aussterben verurteilt ist und womit die Verbrechensaufklärung eine ihrer wichtigen Ermittlungsschienen einbüßt.

Tatort Gerichtsmedizin!

Vielleicht sollte man mit Gerichtsmedizin einmal einen Tatort oder andere der beliebten TV-Krimi-Serien bespielen, um auf diesen Bildungsmissstand aufmerksam zu machen und Studenten für diesen Berufszweig in der Medizin zu begeistern.

Denn das Thema, mit oder ohne kritische Untertöne gegenüber dem Medizinbetrieb, nimmt mit, ist Spannung, Krimi pur. Nur ein paar wenige Beispiele:

  • Die richtige Deutung von Schnittwunden am Hals: Mordversuch, Selbstmord, Unfall?
  • Was die für viele so ekelhaften Fliegen und Maden über Todeszeitpunkt und Ursachen erzählen, die oft wichtigsten Verbündeten der Gerichtsmedizin.
  • Warum Wiens Narrenturm ein Fortschritt gegenüber der Verwahrung von psychisch Kranken in dunklen Verliesen war; welche revolutionär-physikalischen Erkenntnisse hinter seiner kreisrunden Guglhupf-Struktur standen und wie kurios-abergläubig das uns heute anmutet.
  • Weshalb es nie Vampire gab und Phänomene wie Erektionen bei Toten ebenso wie Gurgelgeräusche darin kein Spuk sind: evidenzbasierte Forschung klärt auf.
  • Wie weibliche Erbschaftsjäger ihre Männer fast ohne auffindbare Anzeichen in einem raffinierten „zweizeitigen Tötungsmechanismus“ umbrachten.
  • Was unappetitliche Mageninhalte über Sterbeursachen verraten und warum der feine Geruchssinn einer der verlässlichsten Werkzeuge der Gerichtsmedizin bleibt.
  • Mit welchen Tricks die Leichen Seliggesprochener durch die Kirche wieder so aufgepeppt werden, dass sie wie lebendig aussehen, obwohl sie seit Jahrzehnten im Sarg oder der Gruft lagen.
  • Wie Dynastien mit unwillkommenen Todesfällen umgingen und sie erfolgreich kaschierten.
  • Die Irrtümer von Ärzten, Krankenhäusern, Pflegepersonal, durch die immer wieder Kranke für tot erklärt werden, bis sie sich bereits in der Leichenkühlkammer plötzlich aufrichten.

Mr Edgar Allen Poe, Ihnen posthum gesagt, und noch mal fett unterstrichen: Die Realität bleibt spannender als jegliche Fantasie und Fiktion.

Einsargen bitte, nicht einäschern!

Dieses Buch ist der Beweis, durchsetzt mit Wiener Schmäh, stellenweise mit für Nicht-Österreichern kuriosen Ausdrücken, immer im Dialog mit den mit allen gerichtspathologischen Wassern gewaschenen Professor Dr. med. Christian Reiter. Der sich auch ein wenig aufs Podest stellt bzw. stellen lässt und der über seine bizarr-essenzielle Arbeit den Humor nicht verloren hat, ja, sogar auch in ein paar Exkurse in die Philosophie, Lebens- und Todeskunst sowie ewige kosmische Kreisläufe wagt.

Und warum er sich nicht einäschern lassen will, sondern im Sarg allmählich vermodern möchte. Auch wegen der Nachhaltigkeit, bis über den Tod hinaus. Außerdem verlieren sich in der Asche anders als in der Leich‘ fast sämtliche Lebens- und Todesspuren, die über Jahrhunderte erhalten bleiben, sozusagen als Gedenken, transhumane Büste, Denkmal.

Ein bedenkenswertes Argument, aber ja: transzendentale Geschmackssache!

Florian Klenk: Über Leben und Tod. In der Gerichtsmedizin. Wien 2024
https://www.hanser-literaturverlage.de/personen/florian-klenk-p-2232

Die Papierform dieses Buches findet eine moderne virtuelle Verlängerung, Ergänzung, Aktualisierung >> Podcast „Klenk + Reiter“.

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