Bei der Lektüre verspürt man, wie der Blutdruck steigt, man den 400-Seiter am liebsten in die Ecke pfefferte, und gleichzeitig ist man angetriggert, weiterzulesen, wie der nukleare Holocaust sich in Details entrollt. Suspense, wie bei einem Hitchcock. In 72 Minuten ist die Welt, so wie wir sie kennen, erdgeschichtliche Vergangenheit.
Konzept „Tote Hand“
Nordkorea hat eine Atombombe aufs Pentagon gelenkt, aus nicht abgeklärten Gründen, weil der Machthaber „verrückt“ ist. Die Auslöschung von Millionen Menschen in den einzelnen Stadien ist akribisch beschrieben, wie nach dem Einschlag die nukleare Kettenreaktion in Gang kommt, der programmierte „Enthauptungsschlag“ gegenüber Russland. Der Mechanismus ist offensichtlich durch nichts zu stoppen. So wie jemand, der einen Faustschlag erhält und blindlings zurückschlägt, und beide Schläger so lange miteinander ringen, Aug um Auge, Zahn um Zahn, bis sie tot am Boden liegen. Das hätte auch der Stoff eines Gladiatorenfilms sein können. Nur dass es dort immer einen Sieger gibt, schon weil Hollywood es so will.
Eigentlich bekannt: Beim Atomkrieg verlieren Alle, weil in der Geschwindigkeit der Abläufe keine Zeit für Diplomatie und Mediation bleiben. Absurder geht’s nicht, aber das ist offensichtlich die Realität, wie sie uns aus diesem Buch entgegenschlägt, ausgestaltet von Annie Jacobsen, US-amerikanische Journalistin rund um Waffentechnik und Sicherheit.
Fast im sekündlichen Countdown: Verifizierung der anfliegenden Atomsprengköpfe, die Unsicherheit und Paranoia der Russen, kein Anruf aus Washington, das Drängen der Sicherheitsberater, Öffnen des Atomkoffers, Auslösen der auf europäische NATO-Stützpunkte und Hauptstädte gerichteten Raketen: Das Konzept „Tote Hand“ verlangt das Abfeuern aller nuklearbestückten Waffen.
„Die Toten beneidend“
Nicht so richtig Neues, im Grunde das kollektive Wissen der Menschheit seit den beiden Atombombenabwürfen über Japan 1945 und dem Wettrüsten im sich anschließenden Kalten Krieg. Auch was die Autorin quasi im Nachwort ausführt, wiederum packend, dass mit den Nuklearschlägen das richtige Elend und Massensterben erst beginnt mit dem nuklearen Winter, der Verseuchung, Hunger – die Überlebenden aufs Steinzeitniveau zurückfallen, das dünne Häutchen der Humanität verlustig geht und nur die Rücksichtslosesten überleben, „die Toten beneidend“, so ein Chruschtschow-Zitat.
12 000 Jahre Zivilisationsgeschichte seit Sesshaftwerdung der Jäger und Sammler – ausradiert. Der Planet Erde überlebt, wie bisher alle Katastrophen in seiner 4 Milliarden Jahre langen Geschichte. Die Evolution geht weiter, überlebende Spezies entwickeln sich weiter, neue entstehen, insofern schwingt hier auch Hoffnung mit. Das Buch endet mit einem Rückblick aus der Zukunft. Wenn die Überlebenden wieder völlig von neu angefangen haben mussten, wie werden Archäologen die Fundstücke deuten in 24 000 Jahren (Halbwertzeit Plutonium)? Viel Raum für Science-Fiction.
Das 2024 veröffentlichte Buch ließe sich auch als Warnschuss interpretieren. Putin hatte im Ukraine-Konflikt ja bereits öffentlich mit dem Einsatz von Atomwaffen „geflirtet“, viele wähnen die Welt bereits im Dritten Weltkrieg, so auch die Wahlkampfrhetorik einiger Parteien zu den deutschen vorgezogenen Neuwahlen im Februar 2025. Und mit dem Amtsantritt des 47. Präsidenten der USA am 20. Januar und seinen angekündigten Expansionsforderungen sind weitere Konflikte und Eskalationen zu erwarten. Gibt es denn wirklich nichts, was die im Buch beschriebene Kettenreaktion stoppen könnte?
Bleibende Zweifel
Eigentlich verlangt es nach einem Gegenentwurf, in dem solche Stopp-Mechanismen zumindest erst mal eine Beschreibung fänden. Ein Gegenmodell mit einem glaubhaften Narrativ, wie dem Nuklearwahnsinn Einhalt geboten werden könnte. Wobei Pazifismus in einer offensichtlich aggressiver werden Welt nicht unbedingt das Mittel der Wahl ist. Aber am Ende jegliche Menschenhistorie auch ein Zufallsprodukt ist mit vielen überraschenden Wenden wie den von Keinem erwarteten Mauerfall 1989.
Das Buch ist ein Action-Buch, „fiktiv“, wie der Buchdeckel klärt. Mal zwei Milliarden, mal fünf Milliarden Opfer, gut, keiner weiß es. Die Autorin bezieht sich als Quellen auf viele Gespräche mit vielen Militärs und Fachleuten, wobei hinter jemand wie dem „Bürgermeister der Area 51“ – einem vermeintlichen Landeplatz von UFOS größte Fragezeichen stehen. Zwischendurch findet der US-Präsident eine letzte Würdigung, der nach Absturz seines Hubschraubers einsam und verlassen in einem Waldstück liegt, blutend, sich dann auch noch einnässend um Hilfe schreit, aber keiner hört ihn.
Dramaturgie schlägt Faktizität, wie leider so häufig. Buchautorin und Buchherausgeber bemühen sich zwar um eine ansprechende Grafik zu rüstungstechnischen Details, was fehlt: Wie die über die Welt verstreuten Abschussbasen gewartet und modernisiert werden, wie sie funktionieren, an modernste Elektronik angepasst worden sind, wenn überhaupt und vor allem wie. Funktioniert das überhaupt? Ist die Alt-Technik vielleicht gerade in Krisen- und Katastrophenszenarien verlässlicher als die moderne, so wie ein Auto aus den 1950ern bei Motorausfall noch angeschoben werden kann, die heutigen aber eher Smartphones auf vier Rädern sind, mit sämtlichen Sensibilitäten, regelmäßigen Updates, kurzer Lebensdauer. Verstecken sich im nie erlebten Ernstfall nicht vielleicht auch unerwartete Ereignisse, eventuell sogar unverhoffte Überraschungen, die die beschriebene Totalkatastrophe abwenden?
Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung. Atomkrieg. Ein Szenario. Heyne 2024