Einer der vielen Helden in diesem Buch ist der Informatiker Nicholas Negroponte. Der mittlerweile über 80-Jährige gründete 1985 an der US-Ostküste das MIT Media Lab und war von einer Vision getrieben: „Atoms to bits“, Atome zu Daten, also die Nutzung der gesamten materiellen Infrastruktur des Kosmos für die Informatik und die Steuerung dieser Teilchen für die Informationsgewinnung, Speicherung, Verarbeitung.
Zauberwort „viral“
Während an der US-Westküste sich die „Informatik-Götter“ Steve Jobs und Bill Gates an der physischen Erschaffung des Personal Computers, dessen Vereinfachung und Verbreitung abarbeiteten und ihre Apple und Microsoft Imperien schufen, ging es dem Sohn griechischer Einwanderer und Vordenker der Cambridge-Denkfabrik, bekannt für seine soziale und sprachliche Eloquenz, um noch etwas viel Größeres, indes zunächst weniger Sichtbares: Das ideelle Durchdringen der Gesellschaft mit den Früchten der neuen Technologie und Kreation einer neuen Kulturwelt, in der alle ihre Facetten in Bytes und Bits zusammenflossen – oder in einem griffigen Bild von Andrian Kreye, Autor von Der Geist aus der Maschine:
Die Schreibtisch, Schere, Tesafilm, das gesamte Büro zu einem PC zusammenschmelzen lässt, mittlerweile auf Smartphone-Format, und wie auch dieses ersetzbar wird durch Sprachbedienung namens Siri und KI – oder wie jene einst hieß: „stochastische neuronale analoge Verstärkungsberechnungen“, die neue Kommandozentrale der Welt?
Während Deutschland sowie ganz Europa nach dem Fall der Mauer mit der Wende und der Wiedervereinigung zu tun hatten, wurde in den USA ein neues Zeitalter ausgerufen, die Globalisierung auf dem Wege der digitalen Revolution. Das war besonders auch Visionären wie Negroponte geschuldet, dem Digital-Diplomaten, der in seinem Labor die Größen der Welt zusammenrief, um sie mit der Digital-Droge anzufixen. „Viral“ war eines seiner Zauberworte, nämlich dass eine Information sich flugs über die Welt ausbreitete – heute Realität, zum Guten und auch weniger Guten.
Think Big!
Das Buch ist fulminant geschrieben von einem journalistischen Zeitzeugen, der als US-Korrespondent oft an erster Linie den digitalen Durchbrüchen beiwohnte.
Wie aus der typisch US-amerikanischen Mentalität von Pioniergeist und Wildwest, Machen und Zukunftsbereitschaft der nach Nutzung des Feuers, Buchdruck, Elektrizität „vierte Urknall des menschlichen Geistes“ in die Welt hineinexplodierte und uns immer fester im Griff hält.
Wie unter „Think Big“ weitere Imperien entstanden so wie Google, Amazon (aus kleinen Ersparnissen, aber enorm strategischem Geschick), der kollektiv erstellten Wikipedia. Das alles war von einer Art marxistischen Revolution getrieben, Befreiung des Menschen von den Produktionsgütern, dem Hippie-Geist der 1960er und 70er für eine neue Welt des Friedens und Ausgleichs, nicht zuletzt von Ikonen wie Jack Kerouac mit Aufbrüchen in die verheißene Freiheit. Sie dachten die Jahrzehnte später entstandenen Daten-Highways vor, in Deutschland von Burda propagiert, was in der Papierwelt von Print lange nicht richtig verstanden wurden. Einer der Gründe, warum Deutschland und Europa den Anschluss verloren bzw. nie in Gang kamen: Es fehlte der Spirit.
Atoms to Bits
Und wo führt das hin? Was viral wird, bestimmen heute die Algorithmen, in der Hand der wenigen Besitzer der digitalen Informationsmaschine, Milliardäre, die die Informationsfluten der Welt schleusen und mit ihrem Geld und Werbespots die Wahl von Präsidenten mitbestimmen.
Und die Zukunft? Atoms to bits, wann werden wir unseren gesamten Körper in die digitalen Prozesse einbeziehen, wo sich Eiweißstränge der DNA besonders gut für die Speicherung eignen. Utopie oder Dystopie: Sind wir auf dem Wege hin zu einem digitalen Omniversum?
Die mittlerweile allgegenwärtige KI dazu befragt zu haben, das wäre vielleicht ein adäquates Schlusskapitel gewesen und verschiedenen Versionen, Interpretationen, Visionen gegeneinander laufen zu lassen. Auch mit der Frage, wie der drohenden Gleichschaltung der Politik durch die Digital-Oligarchen die zivile Gesellschaft begegnen kann; vor allem das WIE, wenn doch alle in Gefahr sind, von diesem Krake verschluckt zu werden, die gleichwohl mittlerweile unser nicht-mehr-analoges Leben immer fester im Griff hat; von der wir in Anlehnung an Goethes Fischer-Gedicht halb gezogen werden, aber der wir auch halb entgegen sinken.
Geniale Rebellen
Die schwelende Ambivalenz erfasst das Buch plakativ mit dem Text einer „Think-different“ Kampagne, die die großen Neudenker des 20. Jahrhunderts einschloss, von Einstein und Edison, über Lennon und Picasso bis Martin Luther King. Zum Abgang aus „Ein Hoch auf die Verrückten“ ein Auszug (S. 210f):
„Die Außenseiter. Die Rebellen. Die Störenfriede … Sie halten nichts von Regeln. Und sie haben keinen Respekt vor dem Status quo … Man kann sie verherrlichen oder verteufeln … was man nicht tun kann, ist sie zu ignorieren … Sie bringen die Menschheit voran. Und während manche sie als Verrückte sehen, sehen wir sie als Genies, denn die Menschen, die verrückt genug sind zu glauben, dass sie die Welt verändern können, sind diejenigen, die es tun.“