Der Münchner Klimaherbst feiert sein 10. Jubiläum. Fünfmal begleitete ihn die TELI mit kritischen Podien zur Klimaproblematik. Dieses Jahr lud sie ins International Munich Art Lab IMAL* im Kreativquartier und fragte: „Wie frei ist eigentlich die Wissenschaft?“

Begrüßung durch TELI Vorsitzenden Kral (M., stehend): Kreitmeier, Kreiß, Schüpphaus, Krausnick, Selinger (v. l. n. r.) (c) Knoll
„Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Rauchen doch nicht schädlich ist. Gezeichnet Dr. Marlboro.“ Kein Witz: Diese Satire des Komikers Otto Waalkes, sagte Kreiß, war jahrzehntelang Realität. Mit wissenschaftlichen Gutachten, die die Risiken des Nikotins verharmlosten, bekämpfte die Tabakindustrie im letzten Jahrhundert erfolgreich Antirauchergesetze.
WISSENSCHAFTLICHE GHOSTWRITER
Heute, ergänzte der ehemalige Investmentbanker, haben wir eine ähnliche Situation in der Getränkeindustrie. Der hohe Zuckergehalt vieler Säfte und Brausen sei eindeutig gesundheitsschädigend. Das werde von den Herstellern allerdings verschleiert, sagte Kreiß, mit Hinweis auf einen Bericht in der „Süddeutschen Zeitung“.

Roland Kreitmeier, Siemens-Chef (l.), und Christian Kreiß, Volkswirt (c) Goede
PROFIT CONTRA WAHRHEIT
„Gewinn geht vor Wahrheit“, bemängelte Kreiß mit Blick auf den Abgasskandal von VW. Und fragte, warum so viele Forschungsgelder in die individuelle Mobilität flössen, auf deren Konto pro Jahr 23 000 Straßentote gehen. Der sichere Schienenverkehr müsse dagegen mit erheblich weniger Mitteln auskommen.
Ein Kernpunkt von Kreiß’ Kritik ist die Praxis der Drittmittelfinanzierung, nach der Forschungsprojekte zunehmend von der Privatwirtschaft gefördert werden. Das belaufe sich auf eine Summe von sechs Milliarden Euro im Jahr in Deutschland. Diesen Trend spiegelten auch Forschungsgremien und –beiräte. In ihnen sei die Industrie überproportional vertreten, nicht aber Einrichtungen der Zivilgesellschaft.
UNTERNEHMERISCHE SOZIALE VERANTWORTUNG
Für die Industrie sprach Roland Kreitmeier, Leiter der Siemens Niederlassungen München und Augsburg. Er ist auch Vorsitzender des Hochschulrats in Augsburg und antwortete Kreiß, dass es dort „kein Übergewicht der Industrie“ gibt. Kreitmeier stellte die soziale Verantwortung der Wirtschaft heraus.

TELI Fishbowl: Beteiligungsformat (c) Goede
2500 SIEMENS-PATENTE
Siemens trage zur Forschung mit jährlich vier bis fünf Milliarden Euro bei, mit 7500 Erfindungen und 2500 Patenten. Kreitmeier schloss mit dem Hinweis, dass er selber Vorlesungen halte, „um die Interessen jungen Menschen zu erfahren und um ihnen wichtige Erfahrungen weiterzugeben“.

Besucherin im Fishbowl (c) Goede
DRITTMITTEL MACHEN UNABHÄNGIG VOM STAAT
„Drittmittel haben an Bedeutung gewonnen“, räumte Krausnick ein, „aber von kaputtsparen kann keine Rede sein“. 85 Prozent der Hochschulmittel in Bayern stammen aus der staatlichen Grundfinanzierung. Gleichzeitig bot er in Replik auf Kreiß eine andere Interpretation von Drittmitteln an. Sie könnten auch als Gegengewicht zur Abhängigkeit vom Staat und somit als „Stärkung der Unabhängigkeit“ verstanden werden.

Peter Knoll (TELI Vorstand), Helmut Selinger, ein Schüler (v.l.n.r.) (c) Goede
KEINE WISSENSCHAFT IST WERTFREI
Der vierte und letzte Impulsgeber war Dr. Helmut Selinger, ein aus der Klimaforschung stammender Physiker, engagiert im Institut für sozial-ökologische Forschung und Mitglied der Nichtregierungsorganisation attac. Er legte wert auf die Feststellung, dass es keine wertfreie Wissenschaft und Forschung gebe, selbst nicht in der von vielen als objektiv wahrgenommenen Physik.

TELI Mitglied Anke van Kempen (M.) (c) Goede
MEHR NGOS IN FORSCHUNGSGREMIEN
Selinger unterstützte Kreiß’ Forderung, dass Wissenschaftsgremien sich mehr der Gesellschaft öffnen müssten. „Die Kirchen allein reichen nicht“, sagte er, „es fehlen Umweltverbände, Gewerkschaften und NGOs wie Greenpeace und attac“.

Peter Selinger, Physiker, attac: Bürger anhören und beteiligen! (c) Knoll
BETEILIGUNG DURCH FISHBOWL
Im Anschluss an die Impulse lud Moderatorin Maren Schüpphaus das Publikum ins Fishbowl. Das „Fischglas“ ist ein Kreis, in dem jeder sich den Experten anschließen und seine Meinung sagen darf. Drin nahmen u.a. die TELI Vorstandsmitglieder Arno Kral, Peter Knoll und das TELI Mitglied Dr. Anke van Kempen Platz.
Sie ist Professorin für Angewandte Wissenschaften in München und verlangte, dass öffentlich geförderte Forschung vom Staat und den Forschungsinstitutionen auch jedem Bürger frei zur Verfügung gestellt werden muss.
CORPORATE CORRUPTION
Schüpphaus ergänzte, dass auch die Wissenschaftler für den öffentlichen Dialog ausgebildet werden müssten, während Kral auch die Verantwortung jedes Einzelnen sich aufzuklären herausstellte, im Übrigen der Rechtsstaat Industriesponsoring und die wissenschaftliche Unabhängigkeit immer noch gut austariere.

Wissenschaftsdebatte im International Munich Art Lab IMAL (c) Knoll
*) IMAL: International Munich Art Lab http://www.imal.info/index.php
**) Christian Kreiß: Gekaufte Forschung. Wissenschaft im Dienst der Konzerne. Europa Verlag Berlin. http://www.europa-verlag.com/buecher/gekaufte-forschung/
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