Von der Wiege bis zur Bahre: Grenzwerte regieren unser Leben. Wieviel Wissenschaft steckt dahinter, wieviel Willkür? Radio Lora „Wissenschaft kontrovers“ suchte im Dezember 2019 nach den Grenzpfosten, mit Moderatorin Sophia Dreyer (M.), Medizinjournalist Günter Löffelmann (l.), Studiotechniker Günter Baur (r.), Wolfgang Chr. Goede © Goede
Dieser Grenzwert hat magische Kraft. Das 2-Grad-Klimaziel, nach dem die durchschnittliche Erderwärmung sich nicht mehr als um zwei Celsiusgrade gegenüber den vorindustriellen Werten erhöhen dürfe. Dafür nötig sei die drastische Reduzierung fossiler Brennstoffe, die das Klimagas CO2 freisetzen. Nur diese Wende könnte die atmosphärische Überhitzung und Klimakatastrophe auf dem Planeten abwenden.
2-Grad-Ziel
Nach Recherchen von Wolfgang Goede, Wissenschaftsjournalist, ist das 2-Grad-Ziel allerdings kein wissenschaftlich begründeter Grenzwert, sondern eine „politische Zielformulierung der EU von 1996“, so die offizielle Erklärung. Von Klimakonferenz zu Klimakonferenz wurde sie wiederholt, bis sie der UN Klimagipfel 2015 verbindlich machte.
In diesen 19 Jahren ging der CO2-Ausstoß allerdings fast ungedrosselt weiter, sodass das 2-Grad-Ziel mittlerweile auf 1,5 Grad abgesenkt wurde. Dies ebenfalls ohne ersichtliche wissenschaftliche Begründung, sondern eher aus Angst vor den stetig steigenden Temperaturen, rapide schmelzenden Gletschern und Polen sowie weltweit zunehmenden Wetteranomalien. Im Rekordsommer 2018 beklagte Deutschland 1200 Klimatote.
Stickstoffdioxide
Auch die Stickstoffdioxide aus Autoabgasen sind ein Killer. Laut Umweltbundesamt sterben daran jährlich 8000 Deutsche. Damit leitete Moderatorin Sophia Dreyer über zu den NO2-Grenzwerten. Die haben eine wissenschaftliche Grundlage, wie der Medizinjournalist Günter Löffelmann berichtete. Nach Auswerten von mehreren zehntausend Studien erließ die Weltgesundheitsorganisation WHO eine Grenze von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Deutschland folgte dieser Empfehlung, während Österreich und die Schweiz sich für niedrigere Grenzwerte entschieden.
Anfang 2019 geriet der deutsche NO2-Grenzwert unter Druck, als hundert Lungenfachärzte ihn als zu niedrig einstuften. Das überlappte mit einer politischen Debatte, Dieselfahrzeuge wegen zu hoher Stickstoffdioxidemissionen aus Innenstädten zu verbannen. Der Initiator der Lungenarztinitiative ist eine schillernde Figur, einer seiner Unterstützer war in der Dieselmotorenentwicklung tätig gewesen.
Bluthochdruck
„Kein Wunder, dass zur Politikverdrossenheit sich Wissenschaftsverdrossenheit gesellt“, kommentierte Sophia Dreyer. Löffelmann bedauerte, dass die Wissenschaft beschädigt aus dieser Aktion hervorgegangen sei. Grenzwerte seien anfällig für „Lobbyismus, Parteiprogramme, Ideologien“, resümierte er.
Auch die Grenzwerte um einen gesunden Blutdruck erleben eine kontroverse Diskussion. „In den USA wurden 20 Millionen Bürger über Nacht zu Hochdruckpatienten“, erklärte Löffelmann, als dort Ende 2017 die Werte auf 130 zu 80 abgesenkt wurden. Deutschland dagegen blieb bei 140 zu 90. Als ideal indes gilt eine dritte Marge, 120 zu 80.
Alkohol
Erschwerend für eine eindeutige Aussage ist, dass Risikofaktoren wie u.a. Blutfette und Körpergewicht in die Bewertung von Blutdruckmessungen hineinspielen. Zusätzlich sind insgesamt 19 Faktoren für die korrekte Messung zu beachten, darunter das selbst von Ärzten oft missachtete Gebot, dass Patienten zuvor drei Minuten lang in Ruhe sitzen müssen.
Eine Anruferin im Studio brachte Alkoholkonsum in die Debatte. Dafür existiert gar kein Grenzwert, weil laut WHO es keine unschädliche Menge gibt. Für zulässig hält die Behörde nur eine „risikoarme Menge“. Ein Bier pro Tag an nicht mehr als fünf Tagen pro Woche, bei Frauen weniger.
ADHS
Noch komplexer wird die Grenzwertdebatte bei psychischen Störungen. Goede berichtete, dass mit Inkrafttreten des DSM-5-Katalogs im Jahre 2013 alle Menschen als depressiv gelten, die nach dem Tod einer nahestehenden Person länger als zwei Wochen trauern.
Die Richtlinien gelten Psychiatern quasi als Bibel. ADHS, das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom, wurde zuvor bei Kindern nur bis zum sechsten Lebensjahr diagnostiziert. DSM-5 verdoppelte den Zeitraum auf zwölf Jahre. Das stieß auf harte Kritik, weil mit Beginn der Schulzeit der Stresspegel von Kindern und damit deren motorische Unruhe erheblich zunimmt.
Internetsucht
Diese Grenzwertverschiebungen in Medizin und Psychiatrie machen zunehmend mehr Menschen behandlungsbedürftig, zumeist mit Arzneimitteln. Die Rolle der Industrie in der Diskussion um Grenzwerte ist wenig transparent, zum Teil umstritten.
Doch das Bild wird noch trüber. Die populäre Diagnose „Burnout“ gibt es nur in Deutschland. Woanders laufen die Symptome unter Depression, stigmatisierender als Stress und Überlastung, so die deutsche Lesart. Südkorea wollte die weltweit alarmierend zunehmende Internetsucht ins DSM-5-Werk einbringen, wurde damit von den US-amerikanischen Entscheidungsgremien allerdings abgewiesen. Wer früher als schüchtern galt, wird heute schnell als psychiatrisch krank abgestempelt. Wer sechs Monate lang sich mit sozialer Interaktion schwer tut, macht sich der Sozialphobie verdächtig.
Überspitzt formuliert: Normal und verrückt, verrückt und normal – ein Spielball von akademischer Willkür, Kommerz, Gesundheitspolitik?
Marker & Signale
Löffelmann warnte davor, auf Grenzwerte zu stieren: „Sie allein werden dem Menschen wenig gerecht.“ Dafür stehen sie im Spannungsfeld von zu vielen Variablen wie Alter, Geschlecht und Kulturkreis. Ihre Gültigkeit ist zudem begrenzt, weil sie laufend aktualisierten Wissenschaftsstudien unterliegen. Positiv gewendet „schaffen sie Orientierung, sind Marker und Signale“, betonte Löffelmann im Schlusswort.
Kein blindes Vertrauen, hatte Dreyer zuvor gefordert, sondern
„wir müssen uns auch selbsteingrenzen“, besonders in der Ernährung. „Und bitte
auch auf das Gefühl und die innere Stimme hören“, ergänzte Goede.
ANKÜNDIGUNG: Am 5. März 2020 um 2000h fragt Radio Lora „Wissenschaft
kontrovers“: „Kinder kriegen – um jeden Preis?“
HINWEIS: Die Sendung über Grenzwerte gibt es auch als Podcast
http://podcast.lora924.de/static/media/episodes/lora924_wiko_grenzwerte_191205om.mp3
Alle Lora „Wissenschaft kontrovers“-Sendungen finden sich bei
https://www.form-und-fuellung.de/
www.wissenschaftsdebatte.de
Man müßte wissen, auf welche Weise die Temperaturmessungen vorgenommen wurden. Wenn berührungslos mit
INFRAROT-Thermometern gemessen wurde, sind die niedrigeren Werte verständlich, da die Körper-Oberfläche
kühler ist, als das körperinnere.
Ein weiterer Grenzwert wackelt. Dass die normale Körpertemperatur bei 37 Grad Celsius liege. Neuere Untersuchungen verorten diesen Wert viel tiefer. Das wird im Ärzteblatt kontrovers diskutiert => https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/108601/Koerpertemperatur-des-Menschen-um-ein-halbes-Grad-gesunken. Umfängliche Temperaturmessungen in Kolumbien im Rahmen der Covid-19 Prävention und Eindämmung lassen vermuten, dass die Normaltemperatur tatsächlich viel tiefer liegt. Bei vielen Messungen springen Temperaturen von 35 bis 36 Grad Celsius ins Auge.