your pocket therapist, im britisch-englischen Original wie in der deutschen Übersetzung mit demselben Titel, kommt einem mächtig anwachsenden Bedürfnis unserer Zeit entgegen: ein Seelenpflaster zu finden für „mental issues“, mentalgesundheitliche Probleme. Mit den Lockdowns der Pandemie sind Depressionen, Ängste & Co angewachsen bei gleichzeitig länger werdenden Wartezeiten von mehreren Monaten bis zu einem Jahr für Therapieplätze. Laut Meldung der Süddeutschen Zeitung im März 2024 bezogen auf München ist jeder vierte psychisch krank.
Hands-on Buch
Das Taschenbuch kommt sympathisch daher. Mit einer Einführung, in der die Autorin Annie Zimmerman über ihre eigenen Essprobleme – binge eating – berichtet und dass sie als Therapeutin sich bei verzwackten Fällen Hilfe bei bei anderen Kolleginnen sucht. Die Optik ist übersichtlich, inhaltlich greifbar, hands-on, mit Anleitungen, Tipps, Erklärstücken. Die Fallgeschichten, an den Patienten Alva, Jay, Maeve und anderen heruntererzählt, machen den Inhalt authentisch.
Auch der auffordernden Appeal kommt nicht zu kurz, nämlich: dass wir von Fühlen und Denken ins Handeln kommen, vor allem Selbiges wiederholen müssen, um im Gehirn neue „neuronale Pfade“ anzulegen (S. 311). Denn allzu gerne verharren wir auch bei größter Einsicht in die Notwendigkeit, unsere Leben zu verändern, in unserer Komfortzone, frei nach dem Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“
Ewiges Tauziehen
Die Autorin beschreibt den Vorgang als ewiges Tauziehen zwischen den beiden Polen, Eingefroren-Sein in Lebensgewohnheiten, auch mit Akzeptanz aller Nachteile, und mutiges Aufbrechen zu Lebensneuland.
Wo Sonne, da auch Schatten – zu Lob, auch Kritik. Auf die Gefahr hin, dass die Autorin und Frauen dies als typisch männlich abtun: Das Buch ist dem Rezensenten, Mann, zu „gefühlig“. Es folgt dem großen derzeitigen Ratgebertrend, das „innere Kind“ zu erden, aber was kommt danach?
Good-bye Freud
Zweifellos richtig, viele unserer persönlichen Probleme wurden in unserer Kindheit angesät: eine zu rüde Erziehung, Hänseleien und Verletzungen, die in Traumata mündeten und Erwachsene nachhaltig belasten. Allzu lange haben wir unsere Augen davor verschlossen. Der Backlash aus dieser Erkenntnis allerdings ist, dass die heutige Z-Generation in Kokons eingewoben aufwächst, gepampert von Helikoptereltern, was zu alarmierender Unselbständigkeit führt. Menschen brauchen Ansage, Autorität, Führung und unter selbiger auch Sprünge ins kalte Wasser. Warum nicht mal auch vom Zehner und höher?
Insofern hätte es dem Buch gutgetan, die Philosophie und das Primat das Handelns noch viel stärker zu betonen, also nicht so unverhältnismäßig stark die Gefühle und Emotionen herauszustellen, die sich aus den Fußstapfen des großen Freud noch nicht befreit haben, in denen Psychotherapie auch heute noch steckt.
Handeln statt Behandeln
In diesen Tagen diskutierten wir viel über Demokratie, Freiheit und deren Defizite, oft sehr abstrakt und nebulös. Reflexion und dann Handeln, das wäre doch eigentlich unsere vornehmste Pflicht, im Großen wie auch im Kleinen und Privaten, denn: Wer nicht handelt, wird behandelt.
Dr. Annie Zimmerman
Your pocket therapist
Befreie dich von alten Mustern und verändere dein Leben
Piper 2024
https://www.piper.de/buecher/your-pocket-therapist-isbn-978-3-492-06485-9