Menschenrechte für die Natur

Unser Naturverständnis ist im Flow. Die Anstöße kommen vermehrt von den indigenen Bevölkerungen. Das könnte man auch als ihren originären Beitrag zum postkolonialen Diskurs einordnen. Insbesondere die Völker der Anden und des Amazonas sowie Neuseelands Māori meinen, dass auch die Natur und ihre Elemente Rechte besitzen, genauso wie reguläre Rechtspersonen – quasi Menschenrechte haben.

Von Gaia zu Pluriversum

Dieser Debatte geht der politische Philosoph Matthias Kramm nach in der aktuellen oekom Publikation Rechte für Flüsse, Berge und Wälder. In 45 Ländern, fast einem Viertel der Welt, gibt es dazu 500 Initiativen, darunter erfolgreiche in u.a. Kolumbien, Neuseeland und Spanien, wo ein Fluss, ein Nationalpark und ein See juristische Rechte erhielten. In Deutschland gibt es derzeit erst einen Verein, der sich hierfür einsetzt.

Dies sind Highlights einer Bewegung, die bereits in den 1970ern von einem US-Juristen in ein rechtliches Korsett gegossen wurde, was bei Urbevölkerungen in vielen Teilen der Welt freilich jahrhundertealte Tradition hat. Anders als im europäischen Denken, das die Natur zur Ausbeutung preisgegeben hat zugunsten eines linearen Fortschrittsgedankens und einer gegen Unendlich gehenden Wachstumsdoktrin, sehen sich die Naturvölker als Teil der Natur und des Kosmos. Darin verschmelzen sie systemisch zu einem einzigen Netz, das wie die DNA eher wendelförmig-spiralig ausgerichtet ist.

Die Um-Welt wird zu einer Mit-Welt erweitert, ja zu einer Ein-Welt, oder noch anders: Ein Wald besteht aus Mineralien und Erde, Pflanzen, darauf Tiere, Menschen, Wasser, Luft, darüber der kosmische Vektor aus Sonne, Mond und Sternen. Jedes Naturelement ist ein aus diversesten Einzelteilen zusammengefügtes Pluriversum – in dem alles in Beziehung zueinander steht, einander beeinflusst: relational, komplementär, reziprok, wofür bei den alten Inka Pacha Mama und bei den alten Griechen Gaia (ebenfalls ein oekom Buch) stand. Für beide war die Welt ein Lebewesen.

Buen Vivir und gutes Leben

Angesichts der globalen Umweltkrise, Klimaerwärmung, Abholzung, Überfischung, Plastikverseuchung ist dieses vital-pluriversale Naturverständnis überfällig und man wünschte ihm eine rasante Rezeption in den verbleibenden 150 Ländern.

Der Diskurs ist kein neuer und es ist ein Verdienst des Münchner oekom Verlags, dass er ihn immer wieder in die Öffentlichkeit trägt. Bereits vor zehn Jahren stieß er ihn an mit Aberto Acostas Buen Vivir, „Vom Recht auf ein gutes Leben“, in Eintracht mit der Natur. Das katholische Hilfswerk Misereor hatte 2021 in Gut(es) Leben beidseitig nachgeforscht und beispielhaft untersucht, wie sich die andine Naturphilosophie auf Bayern übertragen ließe. Daher hätte man sich bei der aktuellen 112-seitigen Veröffentlichung mehr Tiefgang bei gleichzeitiger Ergänzung gewünscht, etwa in welche Geisteshaltungen dieses Naturverständnis eingebettet ist und worin es sich genau von der europäischen Geistesgeschichte unterscheidet.

Statt eines Nachklappers über Theaterarbeit zum Thema, durchaus nicht uninteressant, wäre ein juristischer Teil zielgerechter gewesen, wie solche Naturrechte vor Gericht durchgesetzt werden und wie Widersacher argumentieren, damit der State of the Art dieser reformatorischen Rechtsprechung erkennbar wird und wer genau die Akteure, Beweger wie auch Bedenkenträger sind.

Zivilgesellschaft First

Aber eines wird klar, auch nach dieser Lektüre: dass Motoren des neuen Naturverständnisses im Kern zivilgesellschaftliche Organisationen und NGOs sind, so wie die großen Impulse für neues Denken immer vom Boden und aus Mainstream-Perspektive vermeintlich dem Abseits der Gesellschaften kommen.

Matthias Kramm (HRSG.): Rechte für Flüsse, Berge und Wälder. Eine neue Perspektive für Naturschutz? Oekom München 2023

https://www.oekom.de/buch/rechte-fuer-fluesse-berge-und-waelder-9783987260391

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