Devolution – das Ende der Evolution?

Der Politologe Veith Selk hält die Beteiligungswelt in Atem. In seinem Buch Demokratiedämmerung argumentiert er, dass gerade eine überbordende Partizpation in der Gesellschaft zu immer größer werdender Komplexität und damit Lähmung der politischen Handlungsfähigkeit beiträgt. Der Progressionsthese, dass alles immer besser werde in einer nach oben ziehenden Kurve, stellt er seine Devolution entgegen (De-Evolution), das Gegenteil: Abstieg, immer kürzer, niedriger, langsamer.

Retro- und Postdemokratie

Die Gründe sind nicht nur die wachsende Mitsprache gesellschaftlicher Gruppen seit der “partizipativen Revolution” in den 1960ern, eingebettet in zunehmende Individualisierung, aber auf dem Wege der neuen Medien auch eine Zerfaserung der repräsentativen Demokratie in ein polyzentrisches System mit vielen Machtpolen. Treiber ist weiterhin die rasante Modernisierung und Veränderung auf allen Gebieten der Gesellschaft, “zu komplex, um von Laien und Experten-Idioten verstanden zu werden”, sagte der Autor bei einem Online Workshop Ende Juni 2024, gehostet vom Fachverband Bürgerbeteiligung e.V. Berlin mit über 200 Teilnehmenden.

In einer “wachsenden epistemischen Asymmetrie” klaffen Wissen und Zugang dazu immer weiter auseinander, gleichzeitig werden die Wissenssegmente immer schmaler und fachlich komplizierter, sodass sich am Ende nur noch die Eliten und Nerds damit auskennen, die in Selks Diktion eine “Oligarchisierungfunktion” wahrnehmen. Das schaffe „Legitimationsprobleme und Dysfunktionalität“ für das System als Ganzes und verbannt das alte demokratische Narrativ von der Herrschaft des Volkes ins Mythenreich.

Diesem Terminus der “Retro-Demokratie” stellt Selk die “Post-Demokratie” entgegen, ein von Habermas mitgeprägter Begriff, der die Demokratie und deren Entwicklung in der Bundesrepublik intellektuell-forscherisch mitgestaltet hatte. Der “vox populi”, dem Volkswillen, stellt der Autor die “vox scientifica” entgegen, den Willen wissenschaftlich geschulter Experten in zunehmend arbeitsteilig-spezialisierten Prozessen. Transparenz geht hierbei verloren und begünstigt bei den unteren sozialen Schichten, Absteigern und Hoffnungslosen den Rechtsextremismus, der auf starke monolithische Anführer setzt mit durchschlagenden Patentrezepten für die Lösung selbst verzwacktester Probleme.

“Partizipationsaristokratie”

In seinem Online-Diskurs schloss Selk eine “Partizipationsaristokratie” in diese neuen Eliten ein. Hier träfen sich Gutgebildete und Bessergestellte zu zivilgesellschaftlichem Engagement und empfänden sich als die “Guten”. Zivilgesellschaftlicher Einsatz gehöre mittlerweile zur Vita von Studienabgängern und begünstige Karrieren, gleichwohl Zivilgesellschaft noch mehr Pluralismus schaffe und damit die politischen Prozesse hemme, was der Politologe unterlegt mit Verweis auf Blühdorns “emanzipatorische Entdemokratisierung der Demokratie”. (S. 298)

Aber auch “Multikulti”, Interkulturalität durch Zuzug, Einwanderung, Migration, insgesamt Globalisierung bedrohten den demokratischen Prozess, etwa hierin zum Ausdruck gebracht: “… die im Prozess der Modernisierung größer werdende Multikulturalität und soziale Pluralisierung wiederum dekonstruieren die Identität des vorgestellten Kollektivsubjekts demokratischer Bürgerschaft …” (S. 194) Wobei der Einfluss queerer Regenbogenpolitik, Gender- und Geschlechtsfragen, insgesamt LGBTQIA+ auf diesen Prozess noch unerwähnt bleibt ebenso die Frage, wie parteipolitisch nicht repräsentierte Randgruppen ihre Stimme im gesellschaftlichen Gesamtkonzert hörbar machen. Insgesamt schwingt bei dieser Skepsis der seinerzeit hoch umstrittene Sarazin mit Deutschland schafft sich ab ein wenig nach, wird vielleicht sogar neu intoniert.

In seinem Vortrag formulierte der Autor seine Thesen sprachlich greifbarer wie auch inhaltlich kompromissbereiter als in seinem Buch, das den Soziologiejargon pflegt und damit den von ihm zitierten Laien eher verschlossen bleiben wird. Hier ein typisches Zitat:

“Neben der durch zivilgesellschaftliche wie korporative pluralistische Partizipation und durch das Vordringen des Prinzips der Gruppenrepräsentation ausgelösten Zunahme politischer Komplexität stellt auch die anhaltende Differenzierung eine nicht intendierte Folge der modernisierungsbedingten Zunahme von gesellschaftlicher Interdependenz und Interaktion dar.” (S. 49)

Brandbeschleuniger?

Das über 300 Seiten lange Werk, die Habilitationsschrift des Autors, besteht zum großen Teil aus solchen Satzungetümen. Was die Frage aufwirft, ob gestelzte Wissenschaftsidiomatik nicht mehr zur Verwirrung beiträgt als zur Glättung, Durchblick, Orientierung, was nicht nur für Selk, sondern andere Disziplinen zutrifft, womit dessen Vorwurf der „Fachidiotie“ als Bumerang zurückschlagen könnte.

Insgesamt war die halbstündige Präsentation hands-on und ein hifreiches Resümee des Suhrkamp-Drucks, welchen vermutlich nur wenige Neugierige in Gänze rezipieren dürften. In seiner Fazit-Folie akzentuierte Selk: Die bestehende Demokratietheorie erweise sich als zunehmend “unplausibel”, wobei Partizipation sogar ein “Brandbeschleuniger” sein könnte.

Der zu erwartende Aufschrei der versammelten Partizipationselite blieb bei der Online-Veranstaltung aus. Host und Gastgeber Jörg Sommer, den die Wiki als „Demokratieaktivist“ ausweist, hatte einleitend gesagt, dass die Veranstaltung sich als Impuls zur kritischen Reflexion der eigenen Arbeit verstehe. Unter den Diskutanten war auch Ansgar Klein, renommierter Vordenker der Beteiligungsszene und Zivilgesellschaft.

Links- versus Rechtspopulismus

“Partizipation ist ganz wesentlich zur Stärkung der politischen Urteilskraft”, hielt er Selk entgegen, worauf der antwortete: “Es ist positiv, wenn man miteinander spricht, aber ob das schon Demokratisierung ist, würde ich bezweifeln.” Was Klein wiederum zur Replik veranlasste, er sehe nicht, wie aus dieser Forschungsarbeit ein neues Modell entstehe mit “größerer Integrationskraft und historischer Legitimität”.

Die Königsfrage: Muss, wer kritisiert, auch lösen? Selks Verdienst ist, dass er alle jene zum Nachdenken anregt, die glauben, die Defizite und Krankheiten moderner Demokratie durch Bürgerbeteiligung heilen zu können. Ja, manche vermutlich gegen den ideologischen Strich bürstet. Wie aufwändig, quasi auffressend, mithin unleistbar Beteiligung werden kann, zeigen Bürgerhaushalte, die Beteiligten einen Fulltime-Job aufbürden.

Aber nachfragen muss erlaubt sein: Will der Autor einen Kontrapunkt setzen gegen den verbreiteten Linkspopulismus in der Beteiligungsszene? Auch CSU-Chef und Ministerpräsident Söder warnt vor zu viel Beteiligung als Hemmschuh politischer Prozesse. Sind damit beide, Politiker wie Politikforscher, gleich rechtspopulistisch? Gewiss wird auch Selk wie jeder Mensch und Wissenschaftler, insbesonders Politikforscher, ein Bias haben, tiefsitzend wertgestützte Urteile. Hierüber wünschte man zur Einordnung seines Werkes einen Hinweis. Auch seine TU Darmstadt Biografie enthält darüber keine Information.

Und überhaupt fragt sich: Warum ist die politisch-gesellschaftliche Welt so schicksalhaft gefangen in dem Rechts-Links Schema. Gerade die deutsche Geschichte in ihrer wilden Achterbahnbahrt zwischen den Polit-Extremen im 20. Jahrhundert müsste uns zum Weiterdenken anhalten. Versagt unsere forscherische Kreativität und pragmatische Fantasie vor einer Meta-Ebene, die quasi im Quantensprung diese Polarisierung auf ein höheres und lösbareres Niveau trägt?

Abend- oder Morgendämmerung?

Egal, breiter Konsens bleibt, bis aktuell hoch zum Bundeskanzler und zum Bundespräsidenten, dass Demokratie und Politik in einer Vertrauenskrise stecken. Wege daraus – nichts Genaues weiß man (noch) nicht. Wobei – Hoffnung! – der Buchtitel Dämmerung unbeabsichtigt (?) doppeldeutig ist. Falls die Abend- (oder Götter-)Dämmerung damit angesprochen sein sollte, folgt selbiger stets die Morgen-Dämmerung mit einem neuen frischen Tag: Sonnenaufgang, Licht, Luft, Saft und Kraft.

Veith Selk: Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin, 3. Auflage 2024

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