Rekord! An den 602 Seiten dieses 800 Gramm Wälzers habe ich ein gutes halbes Jahr hingelesen. Auf Seite 88 wollte ich aufstecken, weil diese Kanonade von Kalauern so unerträglich wurde wie täglich Kaviar. Dann vernünftelte es und der Schelmenroman wurde mein Betthupferl. Fast jeden Abend ein paar Seiten genüsslich inhaliert und mit ihnen sanft in Morpheus Arme gesunken.
Eigentlich ist der Inhalt irrwitzig: Politisch-kulturelle Aufreger von Mitte der 1990er Jahre – Schröder noch an den Kanzler-Toren rüttelnd und Augstein bereits alkumwölkte Schatten werfend, als Familienministerin Nolte mit rüschigen Blusen Häme auf sich zog und auf Merkel noch das Mädchen-Label bappte, ein „geistiger Gnom“ (O-Ton) von einem bayerischen Landesvater sich verstotterte. Wen beim Teutates kratzt das noch?
Gerhard Henschel, der in seinem Buch als Manfred Schlosser auftritt, begleitete diese Zeit als Redakteur des Satireblatts Titanic. Seine sehr persönliche Zeitgeschichte garniert er mit feuilletonistischen Durchschüssen, vermischt mit (1966 Wembley-)Fussballfieber und unzähligen amourösen Ergüssen, darunter: Stundenlanger Cunnilingus rächte sich mit Zungenmuskelkater. Gerne teilt er in alle Richtungen aus, Focus operiert aus der Gesäßgegend, Bild ist die Beule einer mittelalterlichen Seuche, fast stramm dagegen steht er vor der FAZ.
Er ist ein Kunstschreiner des Wortes und Satzes: schweinös, dickbrösig und rauschebärtig, flittrig aufgemöpselt, umbauchtanzt, bomfortionös (großartig von „bonne force“), Bonzokrat, Edelnuttenschopf (einer angesagten Nachrichtensprecherin) und Elendbiertrinken (das die Buchepisoden und Seiten inkl. Buchcover durchtränkt), Schnellkochplatteninseln (Sonnenurlaubsziele), die mit Abermillionen Pfund gestopfte Gans von Windsor-Prinzessin, einem Schlüpferstürmer von ungeliebtem Literaturkollegen, Gebrabbel von Fussballmanagern, die damit pro Stunde mehr verdienen als bestbezahlte Logopäden in zehn Jahren.
Ein spritziges Konvolut ohne Kapitel, Struktur, dafür viele, viele Absätze, zum Luftholen. Auch damit, Schnitten und Wenden, schafft es der Autor, sein Menü so frisch aufzutischen, dass wir meinen, als Tafelgäste mit dabei gewesen zu sein. FRAGE: Stammt das alles aus minutiös geführten Tagebüchern, einem riesigen Papierarchiv mit der ausschweifenden Korrespondenz der damaligen Zeit? Zur Buchrecherche hätte man sich bei der Lawine so vieler Insider-Details und Zitate zumindest einen Dreizeiler über die Herkunft gewünscht.
Beim Rezensenten hatte es gefunkt, als er Anfang 2024 ein launiges Interview im Bayerischen Rundfunk mit dem Autor gehört hatte. Was ließe sich aus dem Buch, seinem angepriesenen Witz, Humor, Leichtigkeit für die Schreiberei, auch der über Wissenschaft lernen? Viel! In Bildern denken und das Erleben sprechen lassen, auch durch die jeweiligen Personen mit all ihren Schrulligkeiten.
Im Radio klang Henschel Jg. 62 so etabliert, Elder Statesman – vor 30 Jahren müsste man ihn zwischen Luftikus, Enfant Terrible, Don Juan einsortieren. War die heutige Seriosität in seiner damals fast phobischen Abwehr kurzer Hosen bereits angelegt, schnürt er sich heute einen Binder um den Hals, verdienter Schriftsteller von 50 Wiki-gelisteten Werken?
Seine 33er-Welt, so seine Prosa, war eine andere. Männer-dominant, Testosteron-getrieben, Frauen eher Dekor, eine Umbruchszeit, die gerade erst die kommunikative Revolution entdeckte, den Brief durch Faxe ersetzte, selbige im Schelmentheater eine Orgie feiern. Scheint eine Urzeit her …
Wie würde jemand, diesmal Frau, Migrant, Queer, unsere Jetzt-Zeit, Akteure, Liebesverhältnisse, Amplituden in Worte fassen, Stand und Perspektive von 2050? Immerhin, mit den gespeicherten Emails, Internet, Abrufbarkeit aller Infos wäre das viel einfacher, langweilig – nichtig?
Insgesamt, ein sorgfältig durchlektoriertes Druckwerk, nur einen Fehler entdeckt (S. 353 und die sich wiederholende instringente Kommasetzung nach wörtlicher Rede, u.a. S. 36 dürfte nur aufmerksamst Lesende irritieren); ohne Dreher, Verstümmelungen & Co, das ist die Ausnahme im heutigen Verlagsbetrieb, ein Leseschmaus, aber: Manche möchten sich im Anhang ein Glossar wünschen über diesen schier unendlichen Strom von Namen (alles Klarnamen?) und deren Einordnung. Nun, schlussendlich, noch ein richtiges Manko.
Das Buch lässt sich wegen Größe und Gewicht leider kaum in die Öffis und auf Reisen mitnehmen. Bedauerlich, fand der Kritiker. Der nicht, wie der ebenfalls nicht so gut weggekommene Kritikerpapst Reich-Ranicki, am Schreibtisch sitzend im Sakko, Schlips und Kragen liest, um den Schreibenden würdig zu begegnen; sondern auch in der Horizontalen, siehe oben, wo das Schwergewicht ihm so oft aus den Händen kippte.
Aber gottlob, den Anderthalb-Pfünder gibt’s auch als eBook. Vielleicht wollte Henschel darüber nachdenken, ihn auch als Audio, besser in Extrakten vor allem als Podcast für die modernen weniger Old School Rezipienten zu servieren. Hundert Seiten wären reichlich und ein kapitaler Mehrwert.
https://hoffmann-und-campe.de/blogs/autoren/gerhard-henschel